Im Iran haben Aktivisten zu weiteren Protesten aufgerufen. Landesweit sollen in der kommenden Woche Streikts und Proteste erfolgen, hieß es auf zahlreichen Mitteilungen im Internet. Weite Gesellschaftsteile wurden zur Teilnahme aufgefordert.
Staatliche Schlägertrupps sollen angegriffen werden
Beim Nachrichtenkanal Telegram kursierten Aufrufe, gezielt paramilitärische Einheiten auf Motorrädern anzugreifen, die maßgeblich an der Unterdrückung von Protesten beteiligt sind. Bereits in den vergangenen Wochen hatten Protestteilnehmer etwa Öl auf Straßen gekippt oder Sperren errichtet, um das Vorrücken der Sicherheitskräfte zu erschweren.
Durch massive Gewalt von Polizei und Sicherheitskräften sind friedliche Proteste im Iran enorm eingeschränkt. Demonstrantinnen und Demonstranten setzen daher vermehrt auf die Organisation spontaner Versammlungen, um ihren Unmut gegen die Islamische Republik auszudrücken. Auch Internetsperren erschweren die Organisation.
Rund 470 Demonstranten wurden seit Beginn der Proteste nach Einschätzung von Menschenrechtlern bereits getötet. Auslöser der systemkritischen Aufstände war der Tod der iranischen Kurdin Jina Mahsa Amini Mitte September. Die junge Frau starb im Polizeigewahrsam, nachdem sie von den Sittenwächtern wegen Verstoßes gegen die islamischen Kleidungsvorschriften verhaftet worden war.
- Zum Artikel: "UN-Menschenrechtsrat lässt staatliche Gewalt im Iran untersuchen"
WM in Katar: Der Propaganda-Plan der iranischen Staatsführung
Unterdessen veröffentlichte die Hackergruppe "Back Reward" eine angebliche Tonaufnahme aus einer Sitzung der iranischen Revolutionsgarden Wochen vor der Fußballweltmeisterschaft. Sie legt nahe, dass das iranische Regime einen Propaganda-Plan für die Fußball-Weltmeisterschaft erarbeitet hat. Demnach sagt Katar zu, alle regimekritischen Kundgebungen, Äußerungen oder Symbole zu unterbinden.
Außerdem liefert die Regierung in Doha Listen von Iranerinnen und Iranern, die Tickets für die Spiele gekauft haben – und verspricht, Oppositionelle, die Teheran nicht im Stadion sehen will, blieben draußen. Dagegen will man 5.000 regimetreue Fans kostenlos nach Katar schicken, um für die richtige Stimmung in und um das Stadion zu sorgen. Später werden iranische Beamte der Sicherheitsorgane als Fußballfans in Katar identifiziert.
Nationalspieler verspielen Sympathien
Ein weiterer Baustein des Propaganda-Plans scheint die Nationalmannschaft mit dem Spitznamen "Team Melli" (übersetzt: Nationalmannschaft) selbst. Vor dem Abflug zur WM posiert sie beim ultrakonservativen Präsidenten Ebrahim Raisi. Danach bekommt sie von Demonstrantinnen und Demonstranten einen neuen Spitznamen: "Team Mulla". Die Spieler haben ihre Sympathien bei ihnen verspielt. Das ändert sich auch nicht, als sie beim Auftaktspiel gegen England bei der Nationalhymne schweigen, aus Solidarität mit den Protesten zuhause. Im Gegenteil, die Menschen im Iran feiern die satte 2:6-Niederlage.
In Katar wird vielen iranischen Fans mit regimekritischen Parolen der Zugang zum Stadion verwehrt. Trotzdem sieht man auf der Tribüne im Stadion Flaggen und T-Shirts mit einer Hauptparolen der Proteste: "Frauen – Leben – Freiheit". In Videos auf sozialen Medien ist zu sehen: Der Propaganda-Plan des Regimes scheint nicht zu funktionieren – noch nicht.
Der Sieg gegen Wales – Ein Sieg für die Staatsführung
Beim zweiten Spiel gegen Wales singen die iranischen Spieler die Nationalhymne mit. Zumindest bewegen sie die Lippen, der eine mehr, der andere weniger. Viele spekulieren, sie beugen sich in dem Moment dem Druck durch Aufpasser. Dazu könnte aber auch kommen, dass die Spieler schlicht enttäuscht sind, dass ihre Landsleute ihr mutiges Schweigen, das international beeindruckt, verspotten. Der Iran gewinnt gegen Wales mit 2:0. Und zuhause feiern diesmal die Fans.
Außenminister Hussein Amirabdollahian gratuliert der Fußball-Nationalmannschaft zum Sieg - ein Sieg für das Regime, so wertet es ein Teheraner, der aus Sicherheitsgründen anonym bleibt, gegenüber der ARD. Vor dem entscheidenden Gruppenspiel gegen die USA – den Erzfeind des Regimes – läuft die Propaganda-Maschinerie auf Hochtouren.
0:1 gegen USA: Pleite für den Staat – Sieg für den Protest
Der Druck auf die iranischen Nationalspieler vor dem großen Spiel steigt – und auf ihre Familien, berichtet der US-Fernsehsender CNN im Vorfeld. Teheran habe ihnen mit Gefängnis und Folter gedroht, wenn sich die Mannschaft nicht benimmt, zitiert CNN eine anonyme Quelle. Es soll sich um jemanden handeln, der für die iranischen Staatsbehörden in Katar für die Sicherheit zuständig ist.
Die iranische Mannschaft hält sich an die politischen Vorgaben – aber sie verliert. Der Iran ist raus, der Propaganda-Feldzug zu Ende. Die wirkliche Niederlage kassiert das Regime in Teheran. Die Sieger sind nicht nur das US-Nationalteam, sondern auch die iranischen Demonstrantinnen und Demonstranten und die Opposition. Viele Fans feiern den Sieg der USA mit Sprechchören. Ein Iraner sagt: "Wir gratulieren der amerikanischen Mannschaft. Sie haben sich bemüht und wirklich fair gespielt."
Nationalspieler Azmoun: "Es war für uns wirklich schwer"
Am Tag nach der Niederlage kommt die Nationalmannschaft zurück in den Iran. Das Team des ARD-Studios Teheran fragt Sardar Azmoun, der in der Bundesliga für Leverkusen spielt, wie er die WM in Katar erlebt hat. Der streicht sich über den Bart und überlegt seine Antwort sehr genau: "Es war nicht gut, das muss ich ehrlich sagen. Es war für uns wirklich schwer."
Ein Mann neben ihm, vermutlich einer der Aufpasser, die iranische Sportler bei internationalen Wettbewerben begleiten, macht Druck weiterzugehen. Azmoun ist einer der Spieler, die die Proteste offen unterstützen. Ob der gescheiterte Propaganda-Plan für ihn, seine Mannschaftskameraden und ihre Familien Konsequenzen hat, ist bis jetzt nicht bekannt.
Mit Informationen von dpa
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