Der wachsende Antisemitismus in Europa war das zentrale Thema bei der Verleihung des Internationalen Karlspreises 2024 im Aachener Rathaus. Der Preisträger, Oberrabiner Pinchas Goldschmidt, sagte in seiner Rede, die Sicherheit und Freiheit jüdischen Lebens sei ernsthaft bedroht.
Mit der Verleihung des Karlspreises an Goldschmidt sei das Signal verbunden, "dass jüdisches Leben selbstverständlich zu Europa gehört und in Europa kein Platz für Antisemitismus sein darf", erklärte das Karlspreis-Direktorium.
Warnung vor mehr Antisemitismus - auch an Universitäten
Goldschmidt sagte in Aachen, auch in Deutschland werde zu wenig für die Sicherheit jüdischer Menschen getragen: "Sie versuchen, den jüdischen Menschen Sicherheit zu geben, und dafür bin ich zutiefst dankbar. Aber es tut mir leid, sagen zu müssen: Was getan wird, reicht nicht. Antisemitische Vorfälle und Straftaten bis zu Körperverletzung und Mord nehmen zu. Judenhass tobt sich auf den Straßen aus, auf Demonstrationen, aber auch auf Universitäten." Goldschmidt warnte auch vor hochgebildeten Antisemiten an den Universitäten, die, so der Oberrabbiner wörtlich, jüdischen Studenten die Luft zum Atmen nähmen.
Der Karlspreis sei in diesen Zeiten ein wichtiges Signal, gelte er doch ausdrücklich allen jüdischen Gemeinschaften in Europa. Deren Repräsentant ist Goldschmidt als Vorsitzender der Europäischen Rabbinerkonferenz. Er sagte: "Die Karlspreisträger 2024, sie leben in Angst, sie bangen um ihre Zukunft für sich, ihre Kinder und Enkel. Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, setzen Sie dem etwas entgegen."
Habeck: Deutsche Verantwortung nicht relativierbar
Gewalt gegen Jüdinnen und Juden ziehe sich als blutiger Faden durch die europäische Geschichte, so der deutsche Vizekanzler Robert Habeck in seiner Festrede. Der von Deutschland im Nationalsozialismus geplante und ausgeübte Holocaust, betonte der Grünen-Politiker, sei mit nichts zu vergleichen und die deutsche Verantwortung durch nichts zu relativieren. Antisemitismus sei tief ins zivilisierte Europa eingeschrieben. Im deutschen Faschismus habe er seinen extremen, beispiellosen Exzess gefunden. Aber Antisemitismus habe nicht mit der Nazi-Diktatur begonnen und auch nicht mit ihr geendet.
Albaniens Ministerpräsident Edi Rama verwies in seiner Festrede auf die Toleranz für Religionen in seiner Heimat. Am Ende des Zweiten Weltkrieges sei Albanien das einzige Land Europas gewesen, in dem mehr Juden lebten als vor dem Krieg. Diese Toleranz gelte auch heute. Ein friedliches und respektvolles Zusammenleben zwischen Juden und Muslimen in einem mehrheitlich muslimischen Land sei also möglich.
Goldschmidt kritisiert Rechtsradikale in Israels Regierung
Oberrabbiner Goldschmidt kritisierte in Aachen auch Teile der israelischen Regierung. Auch ihn ließen die Bilder aus dem Gazastreifen nicht kalt, sagte der 60-Jährige, und er habe Probleme mit den rechtsradikalen Mitgliedern der israelischen Regierung. Zugleich sagte er, er wünsche sich mehr Solidarität mit dem israelischen Staat. "Es ist doch offensichtlich: Hamas hat diesen Krieg begonnen und könnte ihn sofort beenden, die Geiseln freilassen, die Waffen strecken und ihrem eigenen Volk ein gutes Leben ermöglichen."
Am Ende der Preisverleihung appellierte Goldschmidt eindringlich, es gelte gemeinsam die Werte der Einigkeit, der Freiheit, der Demokratie und der Menschlichkeit zu vertreten und zu verteidigen.
Am Rande der Verleihung gab es mehrere Demonstrationen. Bei einer Kundgebung wurde ein Transparent mit antisemitischem Inhalt gezeigt. Insgesamt seien die Veranstaltungen friedlich verlaufen, erklärte die Polizei.
Gratulationen vom Bundespräsident und vom Bundeskanzler
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) erklärte auf der Plattform X anlässlich der Verleihung, die jüdischen Gemeinden hätten einen festen Platz in Europa und in Deutschland. Ihr Wirken müsse selbstverständlich sein. "Dass der Aachener Karlspreis an sie und Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt geht, ist ein wichtiges Zeichen für Toleranz und gegen Antisemitismus", erklärte der Kanzler.
Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gratulierte. Er hob die Konsequenz hervor, mit der Goldschmidt nach dem Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine sein Amt als Oberrabbiner von Moskau niedergelegt und Russland den Rücken gekehrt habe. "Sie haben nie gezögert, Differenzen klar aufzuzeigen und für Ihre Haltung einzustehen", erklärte Steinmeier. Er sei dankbar, dass die Europäische Rabbinerkonferenz seit dem vergangenen Jahr ihren Sitz in München habe.
Goldschmidt lebt in München und Jerusalem
Der orthodoxe Rabbiner Goldschmidt ist seit 2011 Präsident der Konferenz der europäischen Rabbiner. Darin sind mehr als 700 Rabbiner vertreten. Er wurde in Zürich geboren und lebte mehr als 30 Jahre in Moskau. Nachdem er sich geweigert hatte, den russischen Angriff auf die Ukraine zu unterstützen, verließ er 2022 mit seiner Familie das Land. Nun lebt er in Jerusalem und München.
Bei der Preisverleihung begleitete ihn seine Familie. Das Aachener Publikum überraschte er mit der Bemerkung, er sei Spross einer nordrhein-westfälischen Familie, die vor 250 Jahren in einem heutigen Ortsteil von Olsberg im Sauerland lebte. Er könne dort die Gräber seiner Vorfahren besuchen.
Mit dem Karlspreis wurden seit 1950 viele Staatsmänner und Persönlichkeiten geehrt, unter ihnen Emmanuel Macron, Helmut Kohl, Tony Blair, Bill Clinton und Papst Franziskus. 2023 bekam der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Preis.
Mit Informationen von dpa
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