SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert hat seinen Twitter-Account deaktiviert - und begründet seinen Rückzug von der Plattform mit ziemlich dramatischen Worten. Die Diskussionskultur bei Twitter führe zu "Fehlschlüssen und Irrtümern in politischen Entscheidungen", sagt Kühnert laut dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Er habe bei sich festgestellt, dass er eine verzerrte Wahrnehmung von Wirklichkeit habe, wenn er zu viel Zeit in dem sozialen Netzwerk verbringe.
Bär über Twitter: "Politiker, Journalisten, Psychopathen"
Twitter als Blase, die mit der Realität wenig zu tun hat - mit diesem Vorwurf belegen Kritiker die Social-Media-Plattform seit langem. "Auf Twitter sind ohnehin nur Politiker, Journalisten und Psychopathen unterwegs", sagte vor einigen Jahren die damalige Digitalstaatsministerin Doro Bär (CSU). Bär erntete für diese Analyse nicht nur Kritik, sondern auch Zustimmung.
Wie viele Menschen in Deutschland Twitter verwenden - darüber kursieren unterschiedliche Zahlen. Im vergangenen Jahr nutzten laut der ARD-ZDF-Onlinestudie vier Prozent der Menschen ab 14 in Deutschland Twitter aktiv. Das wären rund 2,9 Millionen. Andere Analysen sprechen von bundesweit acht bis zwölf Millionen aktiven Twitter-Nutzern. Allerdings ist auch die Zahl von sogenannten Bots sowie kleinen Accounts ohne Follower nicht gering. Klar ist in jedem Fall: Twitter ist in Deutschland deutlich weniger verbreitet als Facebook oder Instagram.
Habecks Twitter-Rückzug: "Super bescheuert, was ich gesagt habe"
Während CSU-Digitalexpertin Bär die Plattform weiter nutzt, haben neben Kühnert auch andere bekannte Personen Twitter verlassen. Robert Habeck zum Beispiel, nach mehreren Fehltritten. Der damalige Grünen-Chef erklärte via Twitter in einem Video vor der bayerischen Landtagswahl 2018, durch den Verlust der absoluten Mehrheit für die CSU würde in Bayern wieder die Demokratie einziehen. Einige Monate später sagte er zum thüringischen Wahlkampf, man werde alles machen, damit Thüringen ein "offenes, freies, liberales, demokratisches Land" werde.
Die Reue folgte kurz darauf. "Super bescheuert" sei das, was er da gesagt habe, erklärte Habeck. Weil er den gleichen Fehler zweimal gemacht habe und zudem von einem Datenklau betroffen gewesen sei, müsse das Konsequenzen haben: "Meine ist, dass ich meine Accounts lösche", sagte der Grünen-Politiker Anfang 2019 mit Blick auf Twitter und Facebook. Inzwischen, als Bundeswirtschaftsminister, findet Habeck zwar wieder auf den Plattformen als Sender statt - allerdings nur über die offiziellen Kanäle des Ministeriums.
Twitter-Rückzüge auch wegen Hass und Hetze
Doch nicht nur eigene Kommunikationsfehler oder Datendiebstahl können Gründe für einen Twitter-Rückzug sein. Auch der teils offene Hass, der in den Kommentaren unter bestimmten Beiträgen herrscht, veranlassen immer wieder Menschen zum Verlassen der Plattform. Vor einigen Wochen deaktivierte der Würzburger Rechtsanwalt Chan-jo Jun seinen Account.
Jun war dort lange eine prominente Stimme gegen Hasskriminalität und Falschbehauptungen. Der Anwalt berichtet von vielen Anfeindungen, Drohungen und versuchte Abmahnungen. Sein Fazit klingt ebenfalls konsterniert: "Ich habe festgestellt, dass meine ursprüngliche Mission, Diskussionen auf Twitter zu versachlichen, nicht funktioniert."
Söder 2016: "In Twitter gibt es immer mehr Trolle"
Auch Markus Söder hat seine eigene Twitter-Geschichte. Der CSU-Politiker machte, damals noch als bayerischer Finanzminister, 2016 einige Monate Pause bei der Plattform. "Denn in Twitter gibt es immer mehr Trolle, und die Aggressionen sind deutlich höher als bei Facebook", sagte Söder damals. Das Netzwerk sei vor allem für Journalisten interessant. Inzwischen twittert Söder längst wieder fleißig. Gut 380.000 Twitter-Follower hat der bayerische Ministerpräsident aktuell. Für viele Politiker ist Twitter offenkundig weiter wichtig - teilweise werden dort sogar Entscheidungen erstmals verkündet.
Söders Vorgänger als Regierungs- und Parteichef hat das Twittern dagegen schnell wieder eingestellt: Horst Seehofer setzte als Bundesinnenminister nach seinem Start bei der Plattform innerhalb einiger Monate nur wenige Beiträge ab. Mitte 2019 teilte er dann mit: "Gelegentlich schaue ich mir dann an, wie das kommentiert wird, und was ich da lese, ist oft dermaßen platt und flach, gehässig und bösartig – nein, von so einer Community möchte ich nicht Teil sein." Mittlerweile ist Seehofer im Ruhestand.
Immer wieder hitzige (Corona-)Debatten
280 Zeichen, so viel ist bei Twitter momentan pro Tweet möglich. Allerdings können Nutzerinnen und Nutzer auch mehrere Tweets zu einem Thread aneinanderreihen und damit einen ausführlicheren Beitrag formulieren. Immer wieder gibt es auf der Plattform hitzige Debatten - nicht zuletzt bei Corona-Themen. Zur Hochzeit der Pandemie schaltete sich auch immer wieder der Virologe Christian Drosten in solche Diskussionen ein. Auf seinem Account ist es aber seit Monaten ruhig geworden.
Der jüngste Prominente, der Twitter verlassen hat, dürfte derweil nicht allzu schnell zurückkehren - wenn überhaupt. "Das scheint für meine politische Arbeit gerade nicht das richtige Medium zum Senden und Empfangen zu sein", sagt SPD-Generalsekretär Kühnert, dem zuletzt knapp 370.000 Accounts bei Twitter folgten. Er wundere sich auch über die Art und Weise, wie auf der Plattform "Gesellschaft repräsentiert oder absolut gar nicht repräsentiert wird".
Waffenlieferungen: Kühnert zuletzt auch bei Twitter in der Kritik
Kühnerts Twitter-Rückzug erfolgt unmittelbar nach teils scharfer Kritik an ihm. Hintergrund: Der SPD-Generalsekretär äußerte sich sehr zurückhaltend über Forderungen, deutsche Kampfpanzer an die Ukraine zu liefern. Man wolle Russland nicht noch dazu animieren, "völlig irrational am Ende zu handeln und noch ganz andere Staaten anzugreifen". Daraufhin twitterte der Noch-Botschafter der Ukraine, Andrij Melnyk: "Meine Güte, Kevin Kühnert." Die Ukraine ausgerechnet in diesem kritischen Moment militärisch im Stich zu lassen, werde "verheerende Folgen für die Zukunft haben".
Vergangene Nacht kommentierte Melnyk Kühnerts Twitter-Ausstieg dann mit einem neuen Tweet. "Donnerwetter", schrieb der ukrainische Botschafter. "Jetzt habe ich Angst, wieder was zu twittern."
(mit Informationen von AFP)
Europäische Perspektiven
BR24 wählt regelmäßig Inhalte von unseren europäischen öffentlich-rechtlichen Medienpartnern aus und präsentiert diese hier im Rahmen eines Pilotprojekts der Europäischen Rundfunkunion.
- zum Artikel "EBU-Projekt Europäische Perspektiven"
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!