Der Chef der Freien Wähler ist Landwirt. Daher zögerte Hubert Aiwanger auch keine Sekunde und schloss sich am Montag den Bauernprotesten in Berlin an. Die Streichung der Agrardiesel-Subventionen nannte der bayerische Wirtschaftsminister eine "Kriegserklärung an die Landwirtschaft". Nach Angaben der Berliner Polizei legten 1.700 Traktoren die Straße des 17. Juni lahm. Am Brandenburger Tor ging nichts mehr voran.
Mit Klimaaktivisten, die in vielen deutschen Städten für stundenlange Blockaden sorgten, ging Aiwanger dagegen hart ins Gericht: "Ich würde sie zu vier Wochen Waldarbeit verurteilen!"
Zweierlei Maß bei Straßenblockaden?
Das Satiremagazin "Der Postillon" postete am Tag nach der Großdemonstration in Berlin ein bearbeitetes Foto: Auf der Straße standen sowohl Traktoren und blockierten den Verkehr – als auch festgeklebte Klimaaktivisten. Das Magazin schrieb dazu: "Letzte Generation blockiert Verkehr ab sofort mit Traktoren, weil das offenbar für alle in Ordnung ist."
Auf den Social-Media-Kanälen ging es rund. Auf der einen Seite der Tenor: Wenn sich Klimaaktivisten auf die Straße klebten, reichten die Vorwürfe bis hin zum Terrorismus. Wenn aber Bauern die Straßen blockierten, sei das offenbar legitimer demokratischer Protest. Wo sei der Unterschied, wenn beide "massive Verkehrsstörungen" verursachten, fragte etwa der X-Account von "PolizeiGrün".
Dem entgegen stehen empörte Aussagen, wonach die Proteste nicht zu vergleichen seien. Die Bauern sorgten schließlich für die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, während viele Klimaaktivisten noch nicht einmal arbeiteten.
Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder stellte sich auf "X" buchstäblich an die Seite des Präsidenten des Bayerischen Bauernverbandes, Günther Felßner. Söders Botschaft an die Ampelregierung in Berlin: "So kann es nicht gehen!"
Wer bricht Recht und wer nicht?
Das Argument, die Bauernproteste seien im Gegensatz zu den spontanen Blockadeaktionen der "Letzten Generation" immerhin als Demonstration angemeldet gewesen, kann der Protestforscher Simon Teune von der Freien Universität Berlin nicht ganz gelten lassen. Der Soziologe forscht seit Jahren über Bewegungen, die auf der Straße begannen. So mag die Großdemo in Berlin angemeldet gewesen sein, die Autobahnblockaden in der ganzen Republik aber doch eher nicht, sagt Teune.
Er betont außerdem, dass manche Traktoren gar nicht auf Autobahnen fahren dürften. Dort gelte eine Mindestgeschwindigkeit von 60 km/h, die erreiche nicht jeder Traktor. Zudem würden durch das Fahren "in Formation" Staus und Blockaden "bewusst herbeigeführt", so der Protestforscher.
Rein juristisch betrachtet, seien die Aktionen von Klimaaktivisten und die Bauernproteste insofern vergleichbar, als man beide als "strafbare Nötigung" werten könne, sagt der Kölner Strafrechtsexperte Christian Kemperdick dem WDR.
Tatsächlich teilten in mehreren Bundesländern die Polizeistellen mit, dass die Autobahn- und Sternfahrten der Traktoren nicht angemeldet gewesen waren. Die "Letzte Generation" meldet ihre Aktionen grundsätzlich nicht ordnungsgemäß an. Vielmehr gibt sie in den Tagen davor Hinweise, dass man beispielsweise "Berlin lahmlegen" werde. Wo genau, sagen die Klimaaktivisten in der Regel nicht voraus.
Welche Straßenblockade ist legitim?
Die Proteste der Bauern und der Klimaaktivisten werden in der Bevölkerung völlig unterschiedlich wahrgenommen. Protestforscher Teune beschreibt das so: Während die Proteste der Bauern als "wütend" beschrieben würden und anerkannt würde, dass deren "Existenz bedroht" sei, würde das Anliegen der Klimaaktivisten, "das existenzbedrohende Ausmaß der Klimakrise zu thematisieren", nicht so breit anerkannt.
Deren Proteste würden oft als "rücksichtslos" empfunden. Welcher Straßenprotest beim Einzelnen als legitim empfunden wird, ist also völlig unterschiedlich. Fakt aber ist laut Teune: Im Stau hinter Bauern wie Klimaaktivisten stünden jedenfalls immer die gleichen Menschen.
Verständnis für Proteste kann sich im Laufe der Zeit ändern
Teune verweist auf längst vergangene Protestbewegungen, die heute ganz anders beurteilt werden. Die Proteste der Suffragetten im Großbritannien der 1920er-Jahre, die Bürgerrechtsbewegung in den 1960er-Jahren in den USA, aber auch die Anti-AKW-Bewegung in den 1980er-Jahren wurden zu ihrer Zeit zum Teil scharf verurteilt und verfolgt, heute aber größtenteils als Errungenschaft gefeiert.
Was in der öffentlichen Wahrnehmung "legitimer Protest" sei, ändere sich ständig. Es sei jedenfalls in der politischen Auseinandersetzung nie anders gewesen, dass der Protest in der eigenen Wahrnehmung der "richtige ist, der zur politischen Haltung passt".
Letzte Generation steht an der Seite der Bauern
Es stellt sich also die Frage: Wenn der Zweck die Mittel heiligen soll, kann oder darf, gilt dann die Wahl der Mittel für alle gleich oder eben nicht? Für die "Letzte Generation" ist die Antwort klar. Die Klimaaktivisten stehen "mit großem Verständnis" an der Seite der Bauern. Sprecherin Lina Johnsen teilte in einem Video mit, wenn den Bauern die Subventionen gestrichen würden, werde für sie das wirtschaftliche Überleben immer schwieriger. Die Höfe stünden ohnehin "massiv unter Druck, ihre Produkte billig zu verkaufen".
Klimaaktivisten und Bauern bald vereint auf einer Demo?
Protestforscher Teune schließt jedenfalls nicht aus, dass sich Klimaaktivisten und Bauern bald vereint auf einer Demonstration treffen könnten. Nämlich am 20. Januar 2024, wenn in Berlin die jährliche "Wir haben es satt"-Demo stattfindet. Ein breites Bündnis aus Umweltschutz- und Klimaverbänden sowie Tierschützern ruft dazu jährlich im Rahmen der Agrarmesse "Grüne Woche" in Berlin auf.
Nur eine Einschränkung muss Teune dann noch machen: Möglicherweise werden bei dieser Demo in Berlin überwiegend Biobauern mitmachen, keine Landwirte mit konventionellen Betrieben. Traktoren mit Agrardiesel fahren sie aber alle.
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