Innerhalb von einer Woche wurden zwei Explosionen in russischen Militäranlagen auf der ukrainischen Halbinsel Krim gemeldet. Die Ukraine hat bisher nicht erklärt, ob sie dafür verantwortlich ist. Präsident Wolodymyr Selenskyj rief aber die ukrainische Bevölkerung auf, sich von russischen Militärstützpunkten und Munitionslagern fernzuhalten. Russland hingegen spricht von Sabotage.
Eine Erklärung für die Geschehnisse auf der Krim gibt der Militärökonom Marcus Keupp: Die Ukraine schalte im Moment "die russische Logistik aus, die die Russen seit 2014 dort errichtet haben", sagte der Dozent von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich im Gespräch mit der Bayern 2-radioWelt. Und dies offenbar mit Präzisionsraketen, die eine hohe Reichweite haben.
Experte: Ukraine kann Russland "sehr empfindlich" treffen
Die Krim ist ukrainisches Staatsgebiet. Russland hat die Halbinsel 2014 unter seine militärische Kontrolle gebracht. "Annektiert" wurde die Krim, wie Keupp sagt, lediglich nach russischer Auffassung. Die Annexions-Erklärung sei international nie anerkannt worden. Für Keupp bedeuten die Explosionen in russischen Militäranlagen auf der Krim keine ukrainische Rückeroberung, aber eine Veränderung im Krieg:
"Und da sehen Sie eben, dass der Krieg sich jetzt fundamental verändert, dass die Ukrainer in der Lage sind, aus der Ferne, also ohne an die eigentliche Frontlinie vorzurücken, die Russen sehr empfindlich zu treffen." Militärökonom Marcus Keupp
Auch die Größenordnung dieser Schläge würde zeigen, dass die Russen nicht damit gerechnet hätten, beziehungsweise dass sie unfähig seien, solche Angriffe mit ihrer Luftverteidigung abzufangen. Die Ukraine würde mittlerweile über ATACMS-Präzisionsraketen verfügen, die aus ihren HIMARS-Systemen abgefeuert werden können und eine Reichweite von maximal 300 Kilometern haben.
"Russischer Dilettantismus" bei Munitionslagerung
Bei den Explosionen von Dienstag auf der Krim sieht Keupp auch "russischen Dilettantismus" als Ursache, weil riesige Munitionslager "einfach unter offener Sonne" deponiert worden seien. Es wäre möglich, dass die lokale Bevölkerung Spezialkräfte oder Partisanen über die Standorte informiert habe.
Geographische Karte zur Lage in der Ukraine
Strategische Wirkung: Russische Truppen westlich des Dnepr isoliert
Warum die Ukraine sich nicht zu Anschlägen auf die Munitionslager bekennt, kann Keupp nicht definitiv sagen. Aber es mache Sinn für die Ukraine, das bewusst im Unklaren zu lassen, weil sich der Gegner so nicht auf mögliche weitere Stöße vorbereiten könne. "Aber die entscheidende Wirkung ist einfach, dass sie sämtliche logistischen Linien von der Krim in die südliche Ukraine, insbesondere in den Raum Cherson, damit unterbunden und damit alle russischen Truppen, die derzeit westlich des Dnepr stehen, isoliert haben", stellt der Militärökonom fest.
Falls bewusstes Kalkül, dann "nuklearer Staatsterrorismus"
Ein weiterer Kriegsschauplatz ist die Gegend um das Atomkraft Saporischschja, das immer wieder unter Beschuss steht. Für die Analyse der Lage dort beschreibt Keupp: Das Atomkraftwerk liege in der russisch-besetzen Industriesiedlung Enerhodar südlich des Dnepr. Nördlich des Dnepr befinde sich die ukrainisch kontrollierte Stadt Nikopol. Die Russen würden nun von Enerhodar aus die Stadt Nikopol beschießen. Die Ukrainer könnten nicht zurückschießen, weil sie eben gegenüber das Atomkraftwerk haben, erläutert Keupp.
"Wenn das tatsächlich ein bewusstes russisches Kalkül ist, dann steht Russland mittlerweile auf einer Stufe mit Libyen oder mit Nordkorea", sagt der Militärökonom im Gespräch mit der Bayern 2-radioWelt. "Dann ist das nuklearer Staatsterrorismus." Die Haager Landkriegsordnung verbiete ausdrücklich die Beschädigung oder die Inkaufnahme von der Zerstörung ziviler Infrastruktur.
AKW Saporischschja: Andere Lage als bei Tschernobyl
Auf der anderen Seite müsse man sehen, dass die Medien dabei seien, "Ängste der Bevölkerung aufzubauschen". Von sechs Reaktoren seien noch zwei am Netz. "Und angenommen, die äußere Hülle dieser Reaktoren, also die Ummantelung würde tatsächlich beschossen, dann würde der Erschütterungssensor diese Reaktoren abschalten", sagt Keupp.
Man dürfe sich das nicht wie bei Tschernobyl vorstellen, dass ein Reaktor in die Luft fliegt. "Das Problem ist mehr das Depot mit den ausgebrannten Brennstäben beziehungsweise die Kühlanlagen, wenn das beschossen oder beschädigt würde, dann müsste man im Reaktor kontrolliert herunterfahren", meint Keupp. Die Frage sei, ob die Russen, die das Atomkraftwerk besetzt halten, dann dazu in der Lage oder überhaupt bereit dazu sein. Seiner Ansicht nach gibt es zwei Möglichkeiten zur Kontrolle der Lage: In das Atomkraftwerk mit militärischen Spezialkräften reingehen oder eine völkerrechtliche Lösung suchen, was momentan versucht werde.
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