Ein Mitarbeiter des Rekrutierungsbüros des ukrainischen Freiwilligenbataillions "Wölfe Da Vincis" sitzt an einem Laptop.
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In der Ukraine läuft bald eine Frist ab, bis zu der wehrfähige Männer den Behörden ihren Aufenthaltsort nennen müssen.

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Drückeberger, Helden & die Angst: Mobilisierung im Ukraine-Krieg

Im Krieg gegen Russland fehlt es der Ukraine nicht nur an Waffen, sondern auch an Soldaten. Abhilfe soll ein neues Gesetz zu Mobilisierung schaffen. Doch bei ukrainischen Männern führt es zu Verunsicherung, Angst und schwierigen moralischen Fragen.

Über dieses Thema berichtet: Bayern 2 Die Welt am Morgen am .

Wolodymyr klingelt. An dieser Tür fängt sein neues Leben an. Er steht am Eingang eines prächtigen Jugendstilhauses in Kiew, das eigentlich ein Theater war. Doch seit Krieg ist, hat hier ein Militärbataillon sein Rekrutierungsbüro aufgemacht. Die Tür geht auf. "Der Weg eines Menschen vom zivilen Leben ins militärische, das ist ein Bruch. Du führst dein Leben, hast deinen eigenen Weg. Der Kriegsdienst aber ist ein Weg in eine ganz andere Richtung. Es ist kein Irrweg, oder ein falscher Weg. Es ist einfach eine ganz andere Richtung", sagt er beim Eintreten.

"Wölfe Da Vincis": Wichtiges Freiwilligenbataillon für den Ukraine-Krieg

Im ersten Stock sitzt ein junger Mann am Laptop, sein Name ist Zhenia. Wie bei Militärangehörigen üblich, nennt er nur seinen Vornamen. Er trägt ein Fleece in Khakifarben. Hinter ihm hängt ein schwarzes Banner mit der Aufschrift: "Wölfe Da Vincis". Es ist ein berühmtes Freiwilligenbataillon, das in vielen wichtigen Schlachten dieses Krieges gekämpft hat: etwa in der Gegenoffensive bei Charkiw oder bei der blutigen Verteidigung von Bachmut, wo es viele Soldaten und seinen Kommandeur verloren hat.

Anders als die meisten regulären Armee-Einheiten werben die "Wölfe Da Vincis" ihre Rekruten selbst an, in Zentren, wie diesem. Um sich hier freiwillig zu melden, ist Wolodymyr 400 Kilometer weit gefahren, aus Chmelnyzkyj in der West-Ukraine.

Ukrainische Einberufungsbehörden sollen wehrfähige Männer auffinden

Das Aufnahmegespräch dauert keine halbe Stunde. Wolodymyr ist 38, studierter Jurist, hat eine Frau und ein Kind. Er ist Inhaber einer Firma, die Getränkeautomaten aufstellt. Seinen Kopf hat er sich kahl geschoren. Warum er heute gekommen ist? Da gebe es ein Sprichwort, sagt er: "Den Weg in die Kirche, auf den Thron und aufs Schafott muss man auf eigenen Beinen zurücklegen." Er wolle nicht warten, bis ihn die Einberufungsbehörde in einen Bus steckt. Er will selbst entscheiden, mit welcher Einheit er kämpft.

Seit Mai gilt in der Ukraine ein neues Gesetz zur Mobilisierung. Es soll deutlich mehr Männer ab 25 Jahren in die Armee bekommen. Sie sollen für die Behörden auffindbar sein. Bald läuft eine Frist ab, online seinen Aufenthaltsort ans Wehramt zu melden. Mitarbeiter der Einberufungsbehörde patrouillieren inzwischen auf den Straßen im gesamten Land und überprüfen Männer im kriegsfähigen Alter.

Anstieg bei freiwilligen Kämpfern

Das mache sich auch im Rekrutierungsbüro der "Wölfe Da Vincis" bemerkbar. Etwa drei bis vier Mal so viele Freiwillige würden sich für die Ausbildung und den Weg zum Truppenübungsplatz entscheiden, sagt Anwerber Zhenia: "Die meisten verstehen, dass sie vielleicht in ein, zwei Monaten eingezogen werden. Sie müssen sich entscheiden. Wenn du deine Entscheidung nicht selbst triffst, dann trifft sie der Staat für dich. Solange man noch über sich selbst nachdenken kann, sollte man es tun."

Wolodymyr hat seine Entscheidung heute getroffen. Fünf Tage hat er nun, um sich zu verabschieden, von Frau und Kind, von seinen Eltern. Dann geht es auf den Übungsplatz, zur Ausbildung, und in drei Monaten vielleicht schon an die Front. Draußen auf der Straße erzählt er, warum er sich für den Kriegsdienst entschieden hat: "Es gibt da auch ein rein psychologisches Moment. Das Stigma des 'Uchylanten' – des Drückebergers. Es ist moralisch belastend. Du verstehst, dass andere es können. Mein Bruder dient. Das heißt: Ich kann es auch."

Neues Mobilisierungsgesetz lässt keine Wahl

Viele Leute aus seinem Umfeld seien bereits bei der Armee. Er selbst brennt nicht dafür, hält sich nicht einmal für einen Patrioten. "Natürlich habe ich Angst. Ein Mensch mit Angst bleibt am Leben. Aber ich kämpfe nicht mit der Angst. Ich warte, bis sie vergeht. Und dann befrage ich sie: Wovor habe ich Angst? Als Erstes ist da die Ungewissheit", sagt Wolodymyr. Und gegen die hat er sich heute entschieden. Er hat sich für einen neuen Weg entschieden.

Anders ist es bei Taras. Auch er ist 38, auch er hat Freunde bei der Armee. Einige seien bereits tot. Das erzählt er in einer ruhigen Wohnung, im Stadtzentrum von Kiew: "Wenn ich eine Wahl hätte, dann würde ich nicht hingehen. Ich will diese Erfahrung nicht machen, ich will nicht zur Armee." Aus Angst um sein Leben, aus Furcht, dass die Armee es sinnlos vergeuden könnte. Aber eine Wahl habe er mit dem neuen Mobilisierungsgesetz nun nicht mehr.

Sorge vor dem Kriegsdienst bestimmt den Alltag

In wenigen Tagen muss er dem Militär seinen Aufenthaltsort melden, so will es das neue Gesetz. Ob er es macht? Er ringt noch mit sich. "Solche wie ich, davon gibt es hunderttausende. Leute, die nicht wissen, was morgen sein wird. Ich kann nichts Neues anfangen. Ich hänge hier, irgendwo mitten im Nirgendwo", sagt Taras. Früher hatte er viele Pläne für seine Zukunft. Nun aber macht er keine mehr.

Denn er weiß nicht, was in zwei Wochen oder zwei Monaten sein wird. Wird er einberufen? Kommt er an die Front? Wird er in zwei Jahren noch am Leben sein? Jetzt lebt er mit der ständigen Ungewissheit und kämpft mit dem Zweifel.

Trauer und Entschlossenheit oft nahe beieinander

Zweifel kennt Oxana Kozjubajlo nicht. Dafür kennt sie Trauer. Sie steht zwischen großen Bäumen, vor dem Grab ihres Sohnes Dmytro. Rufname: Da Vinci. Er ist der Namensgeber der "Wölfe Da Vincis". Ein zur Legende gewordenes Wunderkind: Jahrgang 1995, jüngster Kommandeur der ukrainischen Armee. Den Titel "Held der Ukraine" verleiht ihm der Präsident noch zu Lebzeiten. Doch für Oxana Kozjubajlo ist es einfach ihr Sohn.

Ihre Stimme stockt, wenn sie von ihm redet: "Er hat mir immer gesagt: 'Mama ich komme mit dem Sieg zurück nach Hause.'" Doch stattdessen ist er vor einem Jahr in Bachmut gefallen. Oxana kann es immer noch nicht fassen. Wie denkt eine Mutter, die ihren Sohn verloren hat, über die Mobilisierung? Sollen die Söhne der anderen Mütter auch zur Armee gehen? Sollen die Männer in den Krieg ziehen müssen? Ihre Stimme wird fester, sie sagt: "Manche meinen, es können nicht alle kämpfen gehen. Aber ich glaube, alle sollten gehen. Alle sollten ihre Ukraine verteidigen. Jeder sollte sein Land verteidigen, sein Haus, seine Familie."

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