Der russische Präsident am Rednerpult mit Wappen und Flagge im Hintergrund
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Motivationsprobleme: Wladimir Putin

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"Moral gerät ins Wanken": So verunsichert Putin seine Soldaten

Ständige Schlagzeilen über Vermittlungsversuche und einen möglichen Waffenstillstand sorgen für erhebliche Irritation an der Front: "Was ist das? Sabotage?" Der russische Ex-Präsident Medwedew hält Verhandlungen für "absolut nicht" vorteilhaft.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Waffenstillstand, Verhandlungen, Kriegsende: All diese Worte überschwemmten die Nachrichtenkanäle wie ein Tsunami. Und ich kann nicht anders, als darauf hinzuweisen, welch schädlichen Auswirkungen das Warten auf das Eintreten dieser politischen Entwicklungen auf die Soldaten hat", so der Post einer russischen Infanterie-Einheit, der in einem der größten Telegram-Kanäle mit 734.000 Abonnenten ("Zwei Majore") verbreitet wurde [externer Link].

Und weiter: "Die Moral eines Menschen, der ständig sein Leben riskiert, gerät sehr ins Wanken, wenn ihm aus verschiedenen Informationsquellen vom Frieden erzählt wird und Kommandeure gleichzeitig fordern, dass er sein Leben für Kriegsziele riskiert, die mittlerweile deutlich seltener geäußert werden. Was ist das? Sabotage oder einfach nur gedankenloses Verhalten an der Informationsfront? Ich weiß es nicht."

Russland verhandelt nur zu eigenen Bedingungen

Durch die Berichterstattung über Vermittlungsversuche, wie zuletzt bei den Moskau-Besuchen des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán und des indischen Präsidenten Narendra Modi, sind Putins Soldaten offenkundig teilweise höchst verunsichert: "Durch solche Aussagen verschwimmen die Ziele und die unerschütterliche Entschlossenheit 'bis zum letzten Mann' wird durch den Gedanken ersetzt, dass alles bald zu Ende ist und dass das, was wir tun, an Bedeutung verliert." Russland sei nicht mehr weit von den revolutionären "Soldatenkomitees" von 1917 entfernt: "Dabei spreche ich nicht von der Moral im Hinterland, wo sie Tag für Tag mantrahaft Floskeln nachbeten."

Dass kein Soldat der letzte Gefallene eines Krieges sein will, kann nicht weiter verwundern. Unselig in Erinnerung blieb als solcher der Amerikaner Henry Nicholas Gunther (1895 - 1918), der wenige Minuten vor dem Waffenstillstand am Ende des Ersten Weltkriegs fiel, wohl aus Ruhmsucht. Und auch Raymond J. Bowman, der symbolische "letzte" Tote des Zweiten Weltkriegs, dessen Leiche der berühmte Kriegsberichterstatter Robert Capa am 18. April 1945 auf einem Balkon in Leipzig fotografierte, dürfte aktiven Kämpfern wohl kaum als Vorbild taugen.

Offenbar nimmt das russische Regime aufkeimende Motivationsprobleme sehr ernst. Anders ist nicht zu erklären, dass der notorische Scharfmacher und Ex-Präsident Dmitri Medwedew eilig postete: "Ein Szenenwechsel in den Vereinigten Staaten könnte der Entschlossenheit der korrupten ukrainischen Elite, Verhandlungen aufzunehmen, neuen Elan verleihen und die Militäroperationen auf Eis legen. Die Frage ist: Ist das für Russland von Vorteil? Ich denke absolut nicht." Russland werde nur "zu eigenen Bedingungen" verhandeln und wenn der Westen auf das Angebot eingehe, müsse Russland "so vorsichtig wie möglich sein".

Waffenstillstand ist nicht gleich Kriegsende

Ein Waffenstillstand sei nicht gleichbedeutend mit dem "Ende der russischen Militäroperation", so Medwedew: "Selbst nachdem sie die Papiere unterzeichnet und die Niederlage akzeptiert haben, werden die übrig gebliebenen Radikalen nach einer Neugruppierung ihrer Kräfte früher oder später an die Macht zurückkehren, aufgestachelt von Russlands westlichen Feinden. Und dann wird die Zeit kommen, das Reptil endgültig zu vernichten." Damit will Putins Amtsvorgänger ganz offenkundig die Ultrapatrioten einfangen, die jedwede versöhnliche Geste misstrauisch beäugen.

Exil-Politologe Anatoli Nesmijan spottete, Medwedew verkünde somit den "immerwährenden" Krieg: "Sie haben nichts anderes und können es auch nicht haben." Da sei es allemal besser, Russland denjenigen zu überlassen, die eine genaue Vorstellung von seinem Wiederaufbau hätten. Die Frage ist, ob solche Kommentare die angeblich angeschlagene Moral der Frontkämpfer stärken.

"Früher opferten sie, heute gehen sie wählen"

Der ebenfalls im Ausland tätige Politikwissenschaftler Abbas Galljamow schrieb zur vermeintlichen Vertrauenskrise: "Die Haltung des russischen Volkes gegenüber seinem Präsidenten kann mit der Haltung der alten Heiden gegenüber ihren Göttern verglichen werden. Sie machten sich auch keine Illusionen über die moralischen und ethischen Qualitäten derjenigen, die sie verehrten. Die Menschen wussten, dass die Götter eigennützig, betrügerisch und eitel waren." Obwohl Putin sie enttäuscht habe, schwiegen die Russen – weil sie wüssten, dass das Regime stärker sei als sie selbst: "Früher brachten sie Opfer dar, heute gehen sie wählen."

Der russische Militärblogger Wladislaw Schurigin (142.000 Fans) rechnete verblüffend scharf mit der eigenen Generalität ab [externer Link]: "Der Krieg dauert nun schon zweieinhalb Jahre, und an der Front gedeihen immer noch Lügen und Schaufensterdekorationen wie Schlafmohn in einem tadschikischen Garten!" Während die Propaganda mehrere umkämpfte Orte immer wieder als "endgültig befreit" bezeichne, würden dort "Hunderte von russischen Männern zur Schlachtbank getrieben". Schurigin düster: "Wir können diesen Krieg nicht gewinnen, wenn unsere Regimenter innerhalb einer Woche in sinnlosen Frontalangriffen und ohne Ergebnis bis auf Null aufgerieben werden."

Probleme mit der Ausrüstung

Sämtliche Klagen über fehlende Drohnen und Munition hätten nichts gebracht: "Wir befinden uns an einem sehr gefährlichen Punkt des Krieges. Der Punkt, an dem wir den Feind entweder mit einer neuen Mobilisierung vernichten – wir entreißen ihm einen für uns so wichtigen Sieg, hart, blutig, aber eben Sieg. Oder die Last unserer systemischen Probleme, bürokratische Trägheit, spießbürgerliche Gleichgültigkeit und Apathie wird uns in den bodenlosen Sumpf eines 'Waffenstillstands' reißen."

Mehrere weitere Blogger unterschrieben prompt "jedes Wort" dieser Kritik: "Von einer Konsolidierung der Gesellschaft ist mehr als zwei Jahre nach Kriegsbeginn überhaupt keine Rede mehr. Im Fernsehen und Radio nehmen Unterhaltungsprogramme immer noch den Löwenanteil des Programms ein." Russlands Medien hätten "katastrophal versagt": "Ja, wir leben in einer Zeit verpasster Chancen." Sogar der russische Parlamentsabgeordnete Andrei Gurulew lobte Schurigin, er habe "hart, aber ehrlich" formuliert: "Ich stimme mit vielen Dingen überein."

Haudegen und Nationalist Alexander Chodakowski (518.000 Fans) räumte ein, dass Russland ein massives Problem mit seiner Ausrüstung habe: Die moderne Technik koste zwar "unvorstellbar viel Geld", erhöhe jedoch nicht die Überlebensfähigkeit, weil billige Drohnen alles zunichte machten: "Am effektivsten sind nun diejenigen, die nach bisherigen Maßstäben zur Kategorie der Verlierer gehörten – Nerds mit technischem Wissen und Spielreflexen."

Westen ist zuversichtlich: Sieg möglich

Solche Art Zweckpessimismus verwunderte manchen Beobachter: "Überraschend ist nicht die Situation selbst, sondern die Tatsache, dass sie plötzlich derart öffentlich darüber zu sprechen begannen. Obwohl es nicht fair erscheint, den Durchschnittsbürger dafür zu beschuldigen, dass er weiterhin mit seiner Familie in der Türkei Urlaub machen möchte."

Der russische Kriegsteilnehmer und "Psychologe" Roman Aljechin (135.000 Follower) schimpfte, der Kreml halte dem Westen schon viel zu lange ein "Zuckerbrot" hin: "Um uns Gehör zu verschaffen, muss der Feind verstehen, dass eine Niederlage unvermeidlich ist oder dass die aufgewendeten Ressourcen den möglichen Nutzen deutlich übersteigen. Das ist noch niemandem klar. Und wenn das bisher nicht mal für die Bewohner der Ukraine offensichtlich ist, so ist der kollektive Westen umso mehr zuversichtlich, dass ein Sieg möglich ist."

Völlige Revision des Weltbildes

Der Politologe Wladislaw Inosemtsew, der gleichermaßen in Russland und im Ausland veröffentlicht, schrieb in einem Kommentar für die in Amsterdam erscheinende "Moscow Times" [externer Link], Putin habe es geschafft, alle seine Ziele in ihr Gegenteil zu verkehren: "Das bedeutet, dass der Niedergang des Putinismus nicht nur die Korrektur seiner Fehler und die Reue für seine Verbrechen erfordert, sondern auch eine völlige Revision des Weltbildes, in dem wir uns scheinbar bequem eingerichtet haben." So sei Russland weder souveräner geworden, noch autarker, international einflussreicher oder sozial gerechter.

Unterschätzt der Westen Putin ständig?

Originell der Beitrag von Exil-Politologe Wladimir Pastuchow, der einmal mehr darauf verweist, dass es in Putins Russland sehr unterschiedliche "Realitäten" gebe: "Das Problem ist, dass in Russland anscheinend alles Eingebildete letztendlich real ist und alles Reale in der Regel hauptsächlich eingebildet wird." Putins "fiktives" Russland lebe von imperialen "Drogen" und messianischen Visionen. Das reale Russland sei dagegen "müde und ausgelaugt von einem Jahrhundert voller Revolutionen und Terror". Das dritte Russland sei rein virtuell und habe nie existiert, sei als Ideal jedoch tief im Unterbewusstsein der Menschen verankert, wie die sprichwörtliche unsichtbare Stadt Kitesch aus der gleichnamigen Oper von Nikolai Rimski-Korsakow.

Diese ideologische Fiktion von Russland tief im Herzen seiner Bewohner sei viel gefährlicher für die Menschheit als die realen Verhältnisse, weil sie widerstandsfähig gegen jede Art von äußerem Druck mache. "Warum unterschätzt der Westen beispielsweise ständig das Putin-Regime?" fragt sich Pastuchow: "Er sieht nur das gegenständliche Russland von heute – ein unglückliches, kaputtes Land, das seiner Meinung nach im Vergleich beispielsweise zu China keine strategische Bedrohung für ihn darstellt. Ich denke, wenn der Westen die Tiefe, das Potenzial und die wahre Bedeutung der russischen Idee besser verstanden hätte, dann hätte er die Prioritäten anders gesetzt."

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