Vor mehr als einer Woche hat ein schweres Erdbeben ganze Städte, Dörfer und Landstriche in der türkisch-syrischen Grenzregion verwüstet. Viele Menschen warteten in dem riesigen Gebiet tagelang vergeblich auf Hilfe. Trotz der Kritik vieler Überlebender am Krisenmanagement berichteten viele türkische Medien vor allem über erfolgreiche Rettungsaktionen. Verzweifelte Menschen, die sich beschwerten, dass bei ihnen keine Hilfe angekommen sei, waren kaum zu sehen oder kamen erst gar nicht zu Wort. Bei einer Fernsehübertragung in der vergangenen Woche ließ zum Beispiel eine Reporterin von Habertürk eine Frau in Kahramanmaras, die berichtete, dass ihre Familie unter den Trümmern liege und keine Hilfe, keine schweren Geräte geschickt worden seien, einfach stehen.
Sender bricht Live-Schalte ab
Während einer Live-Schalte des staatlichen Fernsehsender TRT1 beklagte ein Mann ebenfalls mangelnde Hilfe - der Sender unterbrach die Übertragung und schaltete auf Bilder von den Einsatzkräften. Auch viele Zeitungen zeichnen ein geschöntes Bild mit Überschriften wie "Der Staat ist sofort zur Hilfe geeilt" oder betonen die Schicksalshaftigkeit der Katastrophe mit Titeln wie "Erdbeben des Jahrhunderts" oder "Mein Beileid, meine Türkei". Bei dem schweren Erdbeben 1999 mit mehr als 17.000 Toten schrieben die Zeitungen noch "Mörder", "Der Staat liegt unter Trümmern" oder "Verzweiflung".
"Die Berichterstattung in türkischen Medien ist ja weitestgehend in der Hand von Unternehmen, die der AKP und der Regierung sehr nahe stehen", sagte der Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen, Christian Mihr, BR24. "Diese Medien zeichnen weitestgehend ein Bild davon, wie gut die Rettungsarbeiten ablaufen." Medien wie "Diken" oder "Birgün", die versuchten, ein unabhängiges Bild der Lage zu zeigen, seien "der Regierung natürlich ein Dorn im Auge".
Mindestens vier Journalisten festgenommen
Reporter ohne Grenze verfolgt die Entwicklung mit Sorge: "Wir beobachten - leider muss man sagen, wenig überraschend -, dass in einem autoritär regierten Land wie in der Türkei das Erdbeben genutzt wird, um die Pressefreiheit weiter einzuschränken", betonte Mihr. "Es sind mindestens vier Journalisten kurzfristig festgenommen und dann wieder freigelassen worden, bis ein Verfahren beginnt", so Mihr. Zudem seien Journalisten physisch an der Arbeit gehindert worden.
Auch das Internationale Presse Institut (IPI) forderte die Türkei auf, unabhängige Berichterstattung über das Erdbeben zuzulassen. "Anstatt Medienschaffende zu behindern und zu bedrohen, sollte die Regierung sie stattdessen unterstützen und für ihre Sicherheit bei der Ausübung ihrer Aufgaben sorgen", hieß es in einer Erklärung.
- Zum Barometer der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen
Rangliste der Pressefreiheit: Türkei auf Platz 149 von 180
In der Rangliste der Pressefreiheit steht die Türkei auf Platz 149 von 180. Mindestens 24 Journalistinnen und Journalisten sind laut Reporter ohne Grenzen derzeit in Haft. In Dutzenden weiteren Fällen sei ein direkter Zusammenhang der Haft mit der journalistischen Tätigkeit wahrscheinlich, lasse sich aber nicht nachweisen, da die Justiz die Betroffenen und ihre Anwälte oft für längere Zeit über die genauen Anschuldigungen im Unklaren ließen.
- Zum Artikel: "Zahl von Journalisten in Haft auf Rekordhoch"
Die Zahl der Journalisten in türkischen Gefängnissen sei "im Vergleich zu früheren Jahren eher niedrig, aber immer noch viel zu hoch", so Mihr. "Die Repression hat sich insofern verändert, dass es weniger massenhafte Verhaftungen gibt und dafür mehr anderer Arten der Repressionen wie Ausreisesperren oder die Verweigerung der Pressekarte." Die Pressekarte ist Voraussetzung, um in der Türkei als Journalist arbeiten zu dürfen.
Außerdem beobachtet Mihr "verbale Attacken von regierungs- und AKP-nahen Journalisten" in sozialen Medien auf kritische Journalisten. So setzte ein Journalist der Zeitung "Yeni Safak" einen Tweet ab und warf der linken Nachrichtenagentur ETHA PKK-Propaganda vor. "Wie werden falsche, verzerrte und manipulative Inhalte aus dem Erdbebengebiet produziert?", fragte er und taggte das türkische Innenministerium.
Festnahmen wegen Tweets, die schleppende Hilfe kritisieren
Berichten zufolge wurden auch Dutzende Nutzer im Zusammenhang mit kritischen Beiträgen in sozialen Medien festgenommen. Sie hätten Beiträge geteilt, "mit dem Ziel, Angst und Panik unter der Bevölkerung zu verbreiten", teilte die Polizei mit. Die deutsche Linken-Politikerin Janine Wissler, die zum Zeitpunkt des Erdbebens im Osten der Türkei war, kritisierte vor kurzem: "Kritische Berichterstattung soll mundtot gemacht werden."
Zudem war vergangenen Mittwoch genau zu dem Zeitpunkt, als Präsident Recep Tayyip Erdogan erstmals nach dem Beben die beiden am heftigsten von den Schäden betroffenen türkischen Provinzen besuchte, Twitter teilweise gesperrt. Oppositionelle und Prominente kritisierten damals die Twitter-Sperrung scharf. Die Chefin der nationalkonservativen Oppositionspartei Iyi, Meral Aksener, schrieb an die Regierung gerichtet: "Vor wem und warum habt ihr Angst? Schämt Euch."
Erdogan warnt vor der Verbreitung von "Fake News"
Erdogan hatte dagegen kurz nach dem Beben betont: "In einer Zeit wie dieser kann ich es nicht ertragen, dass Menschen aus politischen Interessen negative Kampagnen betreiben." Offenbar in Anspielung auf die immer lauter werdende Kritik rief er dazu auf, nur auf Anweisungen der Behörden wie die Katastrophenschutzbehörde AFAD zu hören und nicht etwa auf "Provokateure". Er warnte zudem vor der Verbreitung von "Fake News" und kündigte an, dass man sich diese merken und "das Notizbuch öffnen" werde, wenn der Tag gekommen sei. Am Dienstag vor einer Woche hatte Erdogan einen dreimonatigen Ausnahmezustand für die zehn vom Erdbeben betroffenen Regionen ausgerufen.
Wahlen im Mai?
Am 14. Mai sind in der Türkei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen geplant. Erdogan hatte den Termin im Januar vorgezogen. Angesichts des Ausmaßes der Zerstörung gehen Beobachter allerdings davon aus, dass die Wahlen im Mai nicht stattfinden können. Oppositionspolitikerin Aksener sprach sich dafür aus, am 18. Juni - dem ursprünglich geplanten Termin - zu wählen. Noch ist keine Entscheidung gefallen.
Wie sich die Kritik an dem Katastrophenmanagement auf das Wahlergebnis auswirken wird, ist Experten zufolge noch nicht absehbar. Auch wie sich die Lage für Journalisten weiterentwickeln wird, ist noch unklar. "Das Erdbeben hat eine neue Dynamik in die Politik gebracht", so Mihr. "Vor dem Erdbeben war es zum ersten Mal vorstellbar, dass Erdogan bei den Wahlen abgewählt werden könnte. In so einer Situation neigt das Regime natürlich dazu, die Repressionen noch einmal anzuziehen."
Mit Informationen von dpa, AFP
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