Sie hätten gerade ihr Maghrib-Gebet verrichtet, das vierte Gebet des Tages, das in den frühen Abendstunden gebetet wird. Dann hätten sie die Kinder zum Schlafen vorbereitet. Nichts Ungewöhnliches hätten sie bemerkt. "Dann hörten wir ein sehr lautes Geräusch, und um uns herum brach Feuer aus. Alle Kinder fingen an, zu schreien." So schildert Umm Mouhamad al-Attar der Nachrichtenagentur Reuters, was sie am Sonntagabend in Tal as-Sultan erlebte.
Tal as-Sultan ist ein Stadtteil im Westen von Rafah, eines der Areale, die die israelische Armee zu Beginn ihrer Militäroperation im Süden des Gazastreifens am 6. Mai als sogenannte "Schutzzone" ausgewiesen hatte. Über 800.000 Menschen machten sich nach Angaben der Vereinten Nationen daraufhin aus dem Osten von Rafah sowie entlang der Grenze zu Ägypten erneut auf den Weg, folgten den Evakuierungsanordnungen der israelischen Streitkräfte und flohen nach Khan Yunis, nach Al Mawasi an den Strand sowie nach Tal as-Sultan.
Die Armee habe die Flüchtlinge angelogen und gesagt, dass "dieses Gebiet sicher ist und wir hier bleiben könnten, weil es eine sichere Zone ist", wird Jamal al-Attar von Reuters zitiert. Sie hätten ihre Zelte aufgebaut und seien geblieben. Aber es gebe hier im Gazastreifen keine sichere Zone. Der Ort, an dem sie wohnten, sei angegriffen worden. "Sie töteten unsere Kinder und verbrannten unsere Frauen und Ältesten in der sogenannten sicheren Zone. Dies ist das siebte Mal, dass wir im Gazastreifen vertrieben wurden."
Luftangriff auf Rafah habe zwei hochrangigen Hamas-Mitgliedern gegolten
Bereits am Sonntagabend bestätigte ein Sprecher der israelischen Streitkräfte: Der Luftangriff habe zwei hochrangigen Hamas-Mitgliedern gegolten und habe im Gebiet Tal al-Sultan stattgefunden. Die beiden Männer seien Kommandeure des "Hauptquartiers" der Hamas im Westjordanland gewesen. Der Angriff habe, so die Armee in ihrer Mitteilung, "Terroristen gegolten, die ein Ziel für Angriffe im Einklang mit internationalem Recht und mittels präziser Munition auf der Grundlage vorheriger Informationen seien."
Der israelische Rundfunk meldete am Morgen unter Berufung auf palästinensische Quellen, dass der Luftangriff das Feuer im Zeltlager der Binnenflüchtlinge in Tal as-Sultan ausgelöst habe, dem Dutzende Menschen zum Opfer gefallen seien. Später, am Montagnachmittag, sagte Regierungssprecher Avi Hyman, erste Untersuchungen der Armee zeigten, dass die palästinensischen Zivilisten durch das Feuer getötet worden seien, das der Luftangriff auf die hochrangigen Hamas-Mitglieder ausgelöst habe.
Unter Berufung auf das Gesundheitsministerium in Gaza meldete die "New York Times", dass mindestens 45 Menschen bei dem Luftangriff am Sonntagabend getötet und 249 Menschen verletzt worden seien. Offenkundig unter dem Eindruck der massiven internationalen Kritik nahm die Militär-Generalanwältin Yifat Tomer-Yerushalmi am Montagmittag am Rande einer Juristentagung in Eilat zum Luftangriff Stellung: "Natürlich kommt es in Kriegen von solchem Ausmaß und solcher Intensität auch zu schwierigen Zwischenfällen. Einige davon, wie der Vorfall gestern Abend in Rafah, sind sehr schwierig."
Die gestrigen Ereignisse würden noch immer untersucht, und die Armee sei entschlossen, die Ermittlungen in vollem Umfang zu Ende zu führen. Die Militär-Generalanwältin sprach in Namen der Streitkräfte ihr Bedauern aus, "dass im Verlauf des Krieges unschuldige Zivilisten zu Schaden gekommen sind."
"Bomben von einer Tonne Sprengstoff"
Die palästinensische Tageszeitung "Al Ayyam", die der Fatah-Bewegung von Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas nahesteht, berichtet, dass bei dem Luftangriff auf Tal as-Sultan sieben Bomben angeworfen worden seien, "von denen jede über eine Tonne Sprengstoff wog." Das Gesundheitsministerium in Gaza habe mitgeteilt, "dass die Sanitäter und Krankenwagenbesatzungen angesichts der Toten und Verletzten nicht wissen, was sie tun können."
In Rafah gebe es kein Krankenhaus, das so viele Verletzte aufnehmen könne. Augenzeugen hätten berichtet, dass der Luftangriff zahlreiche Zelte zerstört habe, in denen Tausende von Vertriebenen Zuflucht gefunden hätten. Ein Sprecher des palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas verurteilte den israelischen Angriff auf Tal as-Sultan als "Massaker, das alle Grenzen überschreitet", wie die palästinensische Nachrichtenagentur Wafa berichtet.
Der Abbas-Sprecher Nabil Abu Rudeineh erklärte, es bestehe die "dringende Notwendigkeit einer Intervention, um die gegen das palästinensische Volk begangenen Verbrechen sofort zu beenden". Das "klare Urteil des Internationalen Gerichtshofs" vom vergangenen Freitag habe Israel auffordert, seine Militäroffensive gegen die Stadt Rafah einzustellen "und dem palästinensischen Volk Schutz zu gewähren".
Acht Raketen der Hamas auf dem Großraum Tel Aviv
Wenige Stunden vor dem israelischen Luftangriff auf Tal as-Sultan waren um 13 Uhr Ortszeit die Alarmsirenen im Großraum Tel Aviv aktiviert worden: Von Even Yehuda, wenige Kilometer südlich von Netanya, bis zu den nördlichen Stadtgebieten von Tel Aviv suchten die Menschen sofort Schutz vor mindestens acht Raketen, die die Hamas aus Rafah abgefeuert habe, wie die israelische Armee anschließend mitteilte.
Die Distanz zwischen Rafah und dem Norden von Tel Aviv beträgt rund 100 Kilometer. Zum ersten Mal seit Ende Januar war somit der Großraum der Millionenmetropole Ziel eines Hamas-Raketenangriffs geworden. Israels rechtsextremer Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, reagierte auf dem Nachrichtenportal X mit einem einzigen Satz: "Jetzt volle Kraft auf Rafah."
Was israelische und internationale Militärexperten bereits seit Wochen und Monaten thematisiert hatten, wurde nunmehr der breiten Öffentlichkeit bekannt: Die militärischen Fähigkeiten der Hamas seien trotz der sieben Monate andauernden Militäroffensive der Armee zwar verringert, aber beileibe nicht zerschlagen worden. Schätzungen der US-Dienste zufolge ist ein Drittel der Hamas-Bewaffneten getötet worden. Zudem seien mehr als die Hälfte der Tunnel, rund 65 Prozent, unverändert intakt.
Macron: "Diese Operationen müssen aufhören"
"Diese Operationen müssen aufhören", schrieb Macron am Montag auf X. "Es gibt keine sicheren Zonen für palästinensische Zivilisten in Rafah." Er sei empört, schrieb Macron. Er rief zu einer sofortigen Feuerpause und zu einer vollständigen Einhaltung des internationalen Rechts auf.
Abed Mohammed al-Attar, sagte: "Die Entscheidung des (Welt-)Gerichts ist eine Lüge. Sie töten immer noch. Es gibt Flugzeuge, 24 Stunden am Tag. Es gibt immer wieder Märtyrer und Tote. Es gibt Verwundete und Verletzte, Kinder werden zu Waisen. Unschuldige (Menschen). Sie haben nichts getan. Sie wurden von einem Ort zum anderen verschleppt, auf der Suche nach einem Auskommen. Diese Frau hat ihrem Bruder Brot gebacken, damit sie es ihm geben kann, weil es an Nahrung mangelt. Die Belagerung, die Schließung des Grenzübergangs Rafah, der die Lebensader für die Menschen in Gaza ist, ist ihre Lebensader. Sie haben ihn geschlossen."
Im Video: Tote bei Luftangriff auf Rafah
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