Von der Kita bis zur Uni - das deutsche Bildungssystem "arbeitet am Anschlag": Ein alarmierendes Fazit, das der am Montag vorgestellte "Nationale Bildungsbericht" zieht. Es fehlt an Fachkräften, Geld, Integration und Digitalisierung. Der Bericht offenbart die Bildungsmisere damit allerdings nicht neu, er wiederholt die altbekannten Baustellen des Bildungssystems. Er reiht sich in diverse Studien ein, die dem Bildungssystem kein gutes Zeugnis ausstellen.
Und das, obwohl in den vergangenen Jahren viel investiert und passiert sei, meint Studienleiter Kai Maaz vom Leibniz-Institut: Kitas wurden ausgebaut, der Ganztag kam, ebenso Förderprogramme – "trotzdem funktioniert's nicht", sagt er im BR24-Interview.
Bildung hängt immer noch von sozialer Herkunft ab
Deutlich wird das beim Thema "Soziale Ungleichheit": Kinder aus bildungsfernen Haushalten haben weniger Chancen auf gute Bildung – Aufstieg und Erfolg hängen somit stark vom Elternhaus ab. Daran hat sich bislang nichts geändert, das macht der Bericht deutlich.
Ein Beispiel: Nur 32 Prozent der Kinder aus ärmeren oder bildungsfernen Familien erhalten eine Gymnasialempfehlung. Zum Vergleich: in bessergestellten Familien waren es 78 Prozent. Die soziale Ungleichheit hat auch im späteren Leben Auswirkungen: 78 Prozent der Kinder aus Akademikerfamilien studieren; aus Nicht-Akademiker-Familien sind es hingegen gerade einmal 25 Prozent.
Studie: Bildung beginnt schon vor der Schule
Der größte Treiber für Bildungsungerechtigkeit ist nach Studienleiter Maaz aber nicht die Schule, "sondern die Tatsache, dass die großen Leistungsunterschiede zwischen Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft schon bestehen, wenn die Kinder in die Schule gehen". Nämlich schon in den ersten drei bis sechs Lebensjahren. Das bedeutet: Bildung beginnt schon vor der Schule, zum Beispiel in der Kita. Doch da hat Bayern laut Bildungsforschern ein Problem: Hier besuchen weniger Kinder die Kita als in anderen Bundesländern.
Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) hat bei der Vorstellung des Berichts in diesem Zusammenhang auch von Bildung in einer Einwanderungsgesellschaft gesprochen – das Thema ziehe sich durch den ganzen Bericht. Migrationsgeschichte spiele bei der Bildung eine zentrale Rolle. Doch gerade Kinder mit Migrationshintergrund besuchen laut dem Nationalen Bildungsbericht seltener eine Kindertagesbetreuung.
Bildungsungerechtigkeit: "Startchancen-Programm" als richtiger Schritt?
Die FDP-Politikerin verwies beim Thema Chancengerechtigkeit darauf, dass sich etwas bewege. Bund und Länder haben das sogenannte "Startchancen-Programm" beschlossen, das im neuen Schuljahr beginnt: 20 Milliarden Euro sollen über zehn Jahre hinweg zunächst für 4.000 sogenannte Brennpunktschulen investiert werden.
Auch in Bayern sollen insgesamt 580 Grund- und Mittelschulen profitieren: von Geld, aber auch von multiprofessionellen Teams – zum Beispiel mit Schulsozialpädagogen – die auf die individuellen Bedürfnisse der Schüler eingehen können. Die Hoffnung: die Bildungsungerechtigkeit dadurch verringern. Bildungsexperten sehen das als einen richtigen und ersten Schritt an.
Bayern: Mehr Mathe und Deutsch
Auch die bayerische Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler) verfolgt das Ziel, "die Bildungs- und Chancengerechtigkeit noch weiter zu stärken", wie sie BR24 auf Anfrage mitteilt. Unter anderem mit der "PISA-Offensive" seien bereits wichtige Schritte eingeleitet worden, so Stolz. Was sie anspricht: Nach dem PISA-Schock will der Freistaat mehr Mathe- und Deutschunterricht an Bayerns Grundschulen realisieren, um die Basiskompetenzen wie Rechnen oder Lesen zu stärken. Dafür könnten die Schulen selbst entscheiden, an welch anderer Stelle bzw. welchem Schulfach sie kürzen.
Bildungsforscher Maaz vom Leibniz-Institut findet die Fokussierung richtig: "Mathe und Deutsch sind zwei der zentralen Basiskompetenzen, die die Voraussetzung für anschlussfähiges Lernen in anderen Fächern oder höheren Klassenstufen sind." Wer nicht lesen könne, könne später auch keinen komplexen Text verstehen.
Größte Baustelle des Bildungssystems: Personalmangel
Ob all die Programme und Wege tatsächlich etwas an den Baustellen des Bildungssystems ändern, wird sich erst in einigen Jahren zeigen – mit neuen Studien. Klar ist aber: Solange das Hauptproblem der Bildung – fehlendes Personal in Kitas, Schulen und Weiterbildung – nicht angegangen wird, dürften einzelne Programme oder Fördermaßnahmen kaum umzusetzen zu sein.
Vielerorts gestalte sich die Gewinnung von Fachkräften sehr schwierig, heißt es im Bildungsbericht. In Kindertagesstätten werde in Westdeutschland eine bis 2035 anhaltende Personallücke erwartet. An Schulen seien im vergangenen Jahr zwölf Prozent der neu eingestellten Lehrkräfte Seiteneinsteiger ohne klassische Lehramtsausbildung gewesen. In der beruflichen Bildung und im Weiterbildungssektor fehle ebenfalls Personal.
Auch die Finanzen bleiben ein Problem: Die Bildungsausgaben im Land sind in den vergangenen zehn Jahren zwar um 46 Prozent auf 264 Milliarden Euro im Jahr 2022 gestiegen. Ein deutliches Plus. Im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt, sei der Anteil der Bildungsausgaben seit 2012 aber nur um 0,2 Prozentpunkte gestiegen, heißt es kritisch - zumal auch der finanzielle Bedarf steigt, denn die Zahl der Bildungseinrichtungen ist gewachsen, die Zahl der Beschäftigten und auch die der Bildungsteilnehmer.
💡 Nationaler Bildungsbericht
Der Nationale Bildungsbericht erscheint alle zwei Jahre. Er ist eine Art Bestandsaufnahme des deutschen Bildungssystems vom Kindergarten bis zur Erwachsenenbildung. Die Ergebnisse sollen der Politik, aber auch Praktikern als Entscheidungshilfe dienen. Auf mehreren hundert Seiten werden Trends und Probleme beschrieben. Der Bericht basiert auf statistischen Daten sowie sozialwissenschaftlichen Studien und wird vom Bundesbildungsministerium gefördert.
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