Nach der tödlichen Messerattacke auf eine Gruppe Kinder in Aschaffenburg streitet die Politik über Möglichkeiten und Konsequenzen in der Migrations- und Sicherheitspolitik. Ein psychisch kranker Asylbewerber hatte in der unterfränkischen Stadt einen zweijährigen Jungen und einen 41-jährigen Mann, der zur Hilfe eilte, erstochen. Der Polizeiforscher Hermann Groß im BR24-Gespräch über die Debatte nach der Tat.
BR24: Hat Sie die aktuelle Diskussion und Migrations- und Sicherheitspolitik überrascht?
Hermann Groß: Überhaupt nicht.
BR24: Warum?
Groß: Wir befinden uns im Wahlkampf. Die Diskussion ist dadurch geprägt. Aber sie trifft aus meiner Sicht nicht die richtigen Aspekte. Denn: Mit wem haben wir es zu tun? Wir haben es mit einer psychisch kranken Person zu tun, die auch einen Migrationshintergrund hat. Daraus eine Asyldiskussion machen zu wollen, führt aus meiner Sicht am Thema vorbei.
BR24: Worüber sollte stattdessen gesprochen werden?
Groß: Über psychosoziale Versorgung. Nicht nur von Migranten, sondern psychosoziale Versorgung allgemein. Was machen wir, wenn jetzt der nächste Angriff von einer deutschen psychisch kranken Person ausgeführt wird? Die Diskussion auf Migration kaprizieren zu wollen, führt aus meiner Sicht am Thema vorbei, ist aber natürlich durch den Wahlkampf geprägt. Und, dass das jetzt zum Hauptthema gemacht wird: Da muss sich jeder seine eigenen Gedanken machen. Wir werden diese Diskussion nicht mehr stoppen können bis zu den Wahlen.
BR24: Was ist denn "Sicherheit"?
Groß: Sicherheit ist erstmal ein Konstrukt, das vor allem das Problem enthält, dass es ein unendliches Bedürfnis ist. Sie können Sicherheit nicht so befriedigen, dass es nicht immer noch weitergehen würde. Wir haben unsere Sicherheitsmaßstäbe schon sehr stark nach oben getrieben, schon fast ins Unendliche – werden das aber nie erfüllen können. Das erzeugt auch Frustration. Und Sicherheit steht in einer offenen Gesellschaft auch im Konkurrenzverhältnis zu Freiheit. Es gilt, abzuwägen.
BR24: Wie meinen Sie das?
Groß: Wir hören immer wieder den Ruf nach mehr Polizei, insbesondere im öffentlichen Raum, damit sich Bürger sicher fühlen. Aber überlegen Sie mal: Wenn Sie in ein Land kommen, in dem an jeder Ecke ein Polizist steht, vielleicht auch mit einer Waffe in der Hand: Fühlen Sie sich dann sicher? Oder sagen Sie: "Oh, was ist denn hier los?" Da ist eine Ambiguität zwischen dem Wunsch nach mehr Polizei und ein Effekt, der dann kontraintuitiv stattfindet und eigentlich Unsicherheit produziert.
Subjektive Sicherheit lässt sich sehr schwer stärken
BR24: Objektive Sicherheitsmerkmale lassen sich durch Daten, Statistiken und Entwicklungen weitestgehend gut beschreiben. Wie ist das bei der subjektiven Sicherheit?
Groß: Viele Faktoren spielen für das subjektive Sicherheitsgefühl eine Rolle. Der Rechtsgelehrte Franz von Liszt hat vor über hundert Jahren formuliert: "Eine gute Sozialpolitik ist die beste Kriminalpolitik". Das beschreibt schon einen Teil: Wenn Sie sich unsicher fühlen in einem Bereich, der jetzt unmittelbar noch nichts mit Kriminalität zu tun hat – zum Beispiel, Sie haben Angst um ihren Arbeitsplatz, Sie haben Zukunftsängste im Allgemeinen – dann fühlen Sie sich auch im Sicherheitsbereich unsicherer.
Im Video: Ist Deutschland noch sicher? Possoch klärt!
BR24: Welche Möglichkeiten gibt es, das subjektive Sicherheitsgefühl zu stärken?
Groß: Das subjektive Sicherheitsgefühl zu stärken ist schwierig, weil es von so vielen anderen Faktoren abhängt. Ob jetzt tatsächlich mehr Polizei das Sicherheitsgefühl stärkt, bleibt zweifelhaft. Es gibt eine neue Untersuchung für Kassel, in der untersucht wurde, ob höhere Polizeipräsenz zu verringerter Kriminalität und zu einem höheren Sicherheitsgefühl führt. Und die Ergebnisse sind nicht eindeutig. Also es gibt keinen klaren Zusammenhang. Tendenziell verschlechtert sich das Sicherheitsgefühl sogar bei höherer Polizeipräsenz.
BR24: Was kann also jetzt sinnvoll getan werden?
Groß: Wir haben Defizite in der Sicherheitsarchitektur, die in Fachkreisen auch benannt werden. Jetzt wäre die Chance, sie auf den Prüfstand zu bringen. Da muss man aber ganz dicke Bretter bohren. In Anlehnung an das Zitat "Gute Sozialpolitik ist die beste Kriminalpolitik" könnte man mit Blick auf Aschaffenburg sagen: "Eine gute psychosoziale Versorgung ist die beste Prävention vor Attentaten von psychisch erkrankten Personen." Und das ist unabhängig von Migrationshintergrund.
Denn, nochmal: Aschaffenburg liegt nicht daran, dass eine migrantische Person zum Messer gegriffen hat, sondern, dass eine psychisch kranke Person zum Messer gegriffen hat. Wenn also die Union jetzt einen großen zehn-Punkte-Plan zur psychosozialen Versorgung aufgestellt hätte, dann würde ich sagen: Ja, gut gebrüllt Löwe. Das ist eigentlich die Problematik, die dahintersteht.
BR24: Danke für das Gespräch.
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