"Ich hoffe, dass Erdoğan verliert und die Spaltung in der Gesellschaft ein bisschen abnimmt", sagt eine junge Erstwählerin aus Augsburg. Die Deutsch-Türkin ist eine von rund 1,4 Millionen Wahlberechtigten, die bundesweit ab Donnerstag über Ab- oder Wiederwahl des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan mitentscheiden. Im Freistaat haben nach Angaben des Statistischen Landesamts 174.000 Menschen die türkische Staatsangehörigkeit. Davon sind knapp 170.000 über 18 Jahre alt und damit wahlberechtigt. Die Wahlurnen stehen in München, Nürnberg und Regensburg. Die Möglichkeit zur Briefwahl gibt es nicht.
Krisen in der Türkei - Stimmverluste für Erdoğan in Deutschland?
In der Vergangenheit war die Zustimmung unter den in Deutschland lebenden Türken für Erdoğan größer als in der Türkei. Bei der Präsidentenwahl 2018 hatten hier 64,8 Prozent für ihn gestimmt. Er schnitt damit deutlich besser ab als im Gesamtergebnis mit 52,6 Prozent.
Doch dieses Mal ist die Lage anders, meint Kemal Bozay. "Wenn wir uns die jetzige Stimmung anschauen, dann können wir sehen, dass auch Erdoğan durch die politische Entwicklung in der Türkei auch in Deutschland Stimmen verlieren wird", sagt der Professor am Zentrum für Radikalisierungsforschung an der Internationalen Hochschule in Köln im Gespräch mit BR24.
"Ich hoffe, dass unsere Demokratie gewinnt"
Gründe seien das schlechte Krisenmanagement nach dem Erdbeben am 6. Februar mit mindestens 57.000 Toten, die galoppierende Inflation und die Arbeitslosigkeit. In den letzten Jahren wanderten zudem viele Studierende, Fachkräfte und Oppositionelle ein - das könnte Beobachtern zufolge die Zusammensetzung der türkischen Wählerschaft in Deutschland zu Gunsten der Opposition verändern.
"Ich hoffe, dass Erdoğan verliert, damit unsere Demokratie gewinnt", sagt zum Beispiel eine studierte Fachkraft. Die junge Frau war vor wenigen Jahren zum Arbeiten für einen internationalen Konzern von Istanbul nach München gezogen. Ein junger Mann, der ebenfalls erst seit Kurzem in Bayern lebt, hofft auf "weniger Spaltung, weniger Diskriminierung und mehr Freiheit" in der Türkei.
Erdoğan inszeniert sich als "Verteidiger der Deutsch-Türken"
Yaşar Aydın von der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie in Hamburg glaubt trotzdem, dass erneut viele Türken in Deutschland Erdoğan ihre Stimme geben werden. "Ein wichtiger Grund ist, dass die wahlberechtigten Deutsch-Türken einen Tick konservativer sind als die Wähler in der Türkei", sagt der Sozialwissenschaftler BR24. "Außerdem hat sich Erdoğan in der Vergangenheit gekonnt als Verteidiger der Deutsch-Türken inszeniert. Also viele denken: 'Auch wenn ich die eine oder andere Politik von Erdoğan nicht gut finde, da ist jemand, der verteidigt uns.'"
Ein zweifacher Familienvater aus München, der betont, dass er "absolut kein Fan von Erdoğan ist", wird wieder für ihn stimmen. Er hält den 74 Jahre alten Hauptkonkurrenten Kılıçdaroğlu von der CHP nicht für den richtigen Kandidaten. Er hätte sich den Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş, als gemeinsamen Kandidaten des Sechser-Bündnisses gewünscht – doch die Opposition kämpfte lange um den kleinsten gemeinsamen Nenner - und der heißt Kılıçdaroğlu. Allerdings soll der etwas spröde wirkende Kandidat, ein ehemaliger Beamter der Sozialversicherungsanstalt, im Falle eines Wahlsieges von den populären Bürgermeistern von Ankara und Istanbul unterstützt werden.
Grüne Bundestagsabgeordnete sieht gute Chancen für Wahlsieg der Opposition
Die türkisch-stämmige grüne Bundestagsabgeordnete Ekin Deligöz aus Neu-Ulm sieht gute Chancen für einen Wahlsieg des Oppositionskandidaten, wie sie im Interview mit BR24 sagte. Nach ihrer Kenntnis würden zehn von zwölf Umfrageinstitute Kılıçdaroğlu in Führung sehen, teilweise sogar mit zehn Prozent Vorsprung vor dem amtierenden Präsidenten Erdogan. Das Oppositionsbündnis bestehe aus sechs Parteien von wertkonservativ bis links-progressiv. Sie hätten sich zusammengeschlossen, um zu den demokratischen Grundprinzipien zurückzukehren. Offensichtlich fühlten sich sehr viele Menschen in ihrer Freiheit eingeschränkt.
Allein im letzten Jahr seien 2.000 Menschen wegen Beleidigung des Präsidenten verurteilt worden. Das sei eine Angstherrschaft, die von vielen abgelehnt werde. Hinzu käme die hohe Inflation, die Jugendarbeitslosigkeit nehme zu, viele wüssten nicht, wie sie den nächsten Monat überstehen sollen, die ökonomische Situation mache den Menschen Angst. Auch deshalb wünschten sie sich eine andere Regierung.
Zum Abstimmungsverhalten der in Deutschland lebenden Türken sagte Ekin Deligöz: Sehr viele Türken, die als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen seien, stammten aus ländlichen Gebieten. Sie kämen damit aus traditionell-religiösen Strukturen. Außerdem sei der Moschee-Dachverband DITIB eine Unterorganisation eines türkischen Ministeriums. Dieses sei natürlich mit Erdogan-Leuten besetzt, sagte Deligöz. Dennoch habe es bei der letzten Wahl unter den hier lebenden Türken keine absolute Mehrheit für Erdogan gegeben. Von den anderthalb Millionen türkischen Wahlberechtigten, die in Deutschland lebten, sei bei den letzten Wahlen nur etwa die Hälfte zur Wahl gegangen. Von denen, die gewählt hätten, hätten rund 60 Prozent für Erdogan gestimmt, so Deligöz.
Viele türkische Medien unter staatlicher Kontrolle
Ein weiterer Grund, warum in der Vergangenheit immer wieder viele Türken in Deutschland für Erdoğan stimmten, ist Experten zufolge, dass viele vor allem türkische Medien verfolgen. Ein Großteil der Medien aber steht unter der Kontrolle der Regierung oder regierungsnaher Unternehmer – dort ist Erdoğan omnipräsent.
"Es ist unfair und es finden kein demokratischer Diskurs und keine demokratischen Auseinandersetzungen statt", kritisiert Aydın. "Es werden einfach Ängste geschürt. Der Opposition werden Vaterlandsverrat und Ausverkauf nationaler Interessen unterstellt. Unter diesen Bedingungen kann es so was wie faire Wahlen nicht geben."
Keine unabhängigen Wahlbeobachter in Deutschland
In der Türkei beobachten am 14. Mai internationale Wahlbeobachter das Geschehen. In Deutschland ist das nicht so, sagt Frank Schwabe. Der SPD-Bundestagsabgeordnete leitet die Wahlbeobachtungsmission des Europarats in der Türkei. "Das ist nicht Teil des Mandats, weil es einfach nicht zu den Aufgaben des Europarats gehört", sagt Schwabe. Zwar sei dies keine Besonderheit der Türkei und in anderen Ländern auch so. "Aber es ist in der Tat so, dass das ein weißer Fleck ist und für die Zukunft muss der Europarat da sicher die Regeln anpassen."
Der türkischstämmige Journalist Hüseyin Topel aus Hilden bei Düsseldorf mahnt. "Es ist höchste Vorsicht geboten. Besonders die Wahlurnen im Ausland müssen durch Unterstützer der Opposition parteiübergreifend akribisch bewacht werden." Tatsache ist: Nach 20 Jahren an der Macht könnte es für Erdoğan eng werden. Aktuelle Umfragen in der Türkei deuten auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen.
Gerade deshalb kämpfen Erdoğan und seine Koalitionspartner in Deutschland um jede Stimme. Wahlkampfauftritte ausländischer Politiker sind drei Monate vor den Abstimmungen hierzulande zwar nicht erlaubt. Für Privaträume gilt aber etwas anderes. Der Wahlkampf des Wahlbündnisses "Volksallianz", die von Erdoğan angeführt wird, finde in erster Linie in den Zweigstellen der UID, den verschiedenen Moscheegemeinden der DITIB, statt, aber auch in Lokalitäten der Türk Federasyon, die als Ableger der rechtsextremen Grauen Wölfe fungiert, erklärt Kemal Bozay. "Die Mutterpartei der Grauen Wölfe ist die rechtsextreme MHP, Partei der Nationalistischen Bewegung, und die Abspaltung BBP, Große Einheitspartei, die derzeit als Koalitionspartner der AKP von Erdoğan auftreten."
Buschmann - Hetzreden türkischer Politiker Einhalt gebieten
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) rief die Behörden unterdessen zur Wachsamkeit auf. "In der Vergangenheit gab es Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Deutschland, bei denen eine hetzerische Rhetorik an den Tag gelegt wurde", sagte Buschmann dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. "Da wurde etwa von der Vernichtung des politischen Gegners gesprochen. Das ist nach unseren Maßstäben nicht akzeptabel. Demokratie ist ja nicht Krieg, sondern politischer Wettbewerb."
Sprecher weist Spekulationen über Erdoğans Gesundheit zurück
Unterdessen musste Erdoğan wegen gesundheitlicher Probleme den Wahlkampf unterbrechen. Am Dienstagabend brach er ein TV-Interview ab. Später begründete er dies mit dem anstrengenden Wahlkampf und Magenproblemen. Die Ärzte hätten ihm Ruhe verordnet, so der Präsident. Sein Sprecher widersprach derweil Meldungen, wonach der türkische Präsident einen Herzinfarkt erlitten habe und im Krankenhaus sei. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu zitierte zudem Vizepräsident Fuat Oktay mit den Worten, der Gesundheitszustand von Erdoğan sei sehr gut. "Wir stehen ständig in Kontakt. Er hat sich etwas erkältet." Eigentlich wollte Erdoğan heute das Atomkraftwerk Akkuyu am Mittelmeer eröffnen - ein wichtiger Termin im Wahlkampf. Nun wurde er nur per Video zugeschaltet.
Stimmen aus Deutschland könnten wahlentscheidend sein
Bis zum 9. Mai können Wahlberechtigte in Deutschland abstimmen. Die Stimmzettel werden dann per Flugzeug in die Türkei gebracht und dort ausgezählt. Die Ergebnisse der im Ausland lebenden Türken werden erst zusammen mit denen in der Türkei bekannt gegeben. Der Ausgang der "Schicksalswahl", wie sie von vielen Experten genannt wird, ist noch völlig unklar. "Noch sind alle Varianten denkbar", sagte die Politikwissenschaftlerin Ulrike Flader von der Universität Bremen im BR24 Thema des Tages. Es könnte sein, dass die Ära Erdoğan zu Ende gehe, aber auch, dass es für die Opposition wieder einmal nicht reiche. Am Ende könnten die Stimmen aus Deutschland wahlentscheidend sein.
Mit Informationen von dpa, AFP
Im Audio: Wahl in der Türkei - das sagen Türken aus Deutschland
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht's zur Anmeldung!