Wird der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, der seit zwei Jahrzehnten die Politik der Türkei bestimmt, weiter an der Macht bleiben - oder gibt es einen Politikwechsel mit Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu von der CHP? Am 14. Mai stehen in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an.
Jüngsten Umfragen zufolge liegt das Oppositionsbündnis zwar vorn, aber ob der Machtwechsel am Ende tatsächlich gelingt, ist Beobachtern zufolge unklar. Deshalb könnte es auf jede Stimme ankommen - auch auf die der wahlberechtigten Türken in Deutschland. Doch offenbar kommen nicht alle zum Zuge.
Kurden vom Konsulat abgewiesen
"Kurdische Geflüchtete, die für die kommenden Präsidentschaftswahlen gesetzlich wahlberechtigt sind, werden in dem türk. Konsulat in München rechtswidrig abgewiesen, um sich hier im Wählerverzeichnis umzumelden", beklagte Azad Yusuf Bingöl, Mitglied im Münchner Migrationsbeirat. "Es sind sehr viele & entscheidende Stimmen", schrieb er auf Twitter.
20 Menschen abgewiesen
"Sie (türkisches Konsulat) wissen ganz genau, dass Flüchtlinge keine Pässe besitzen. Wir alle sind ohne Pässe in die Bundesrepublik Deutschland eingereist oder haben sie bei der Asylanmeldung abgegeben", sagt der kurdische Sänger Onur Evin in dem Video.
Im Gespräch mit BR24 erzählt er: "Wir waren (am Samstag) etwa 20 Leute und wurden abgewiesen, weil wir keinen Pass hatten, aber wir konnten uns mit anderen Dokumenten ausweisen, doch die wurden nicht akzeptiert", so Evin, der nach eigenen Angaben vor sechs Monaten nach Deutschland gekommen ist und dessen Asylverfahren noch läuft. "So gehen Stimmen für die Opposition verloren", sagt der 32-Jährige.
Beobachter sehen dahinter ein System: "Es ist ziemlich eindeutig, dass diese kurdischen Oppositionellen keine AKP-Wähler sind, sondern für die HDP bzw. Yeşil Sol Parti (Grüne Linke Partei) stimmen würden, insofern bin ich der Ansicht, dass das türkische Konsulat hier ganz klar im Sinne von Erdogan und seiner (Partei) AKP handelt", kritisiert Bingöl vom Migrationsbeirat. Oft würden Mitarbeiter in den Konsulaten "nach Lust und Laune" entscheiden, manchmal würde zum Beispiel ein Führerschein oder ein anderes Dokument akzeptiert, manchmal nicht.
Stellungnahme des Generalkonsulats
In einer Stellungnahme des Generalkonsulats der Republik Türkei heißt es: "Um die Einträge in der Wahlliste zu aktualisieren und sich in die Auslandswahllisten einzutragen, wird ein gültiger türkischer Lichtbildausweis im Original benötigt. Jeder Antrag, bei dem ein türkischer amtlicher Lichtbildausweis vorgewiesen wurde, wurde auch bearbeitet. Darüber hinaus wurden auch Anträge mit Ausweisdokumenten, die dieselben Kriterien wie der Lichtbildausweis erfüllen (z.B. türkische Führerscheine) akzeptiert."
Fotokopien oder Ähnliches von amtlichen Lichtbildausweisen könnten demnach nicht akzeptiert, und Fälle, in denen Kopien vorgezeigt worden seien, konnten nicht bearbeitet werden. Es brauche die Original-Ausweisdokumente. Bei Personen, die keinerlei amtliche türkische Ausweise vorweisen könnten, bestünde die Möglichkeit eine Überprüfung der Identitäten durchzuführen. "Dieser Vorgang nimmt jedoch Zeit in Anspruch." Die Antragsfrist für die Wählerliste ist laut Generalkonsulat zum 2. April abgelaufen. Das Video sei demnach einen Tag vor Fristende erstellt worden, heißt es von Seiten des Generalkonsulats.
Warum die Kurden, die nach eigenen Angaben Dokumente dabei hatten, abgewiesen wurden, kann nicht unabhängig überprüft werden.
"Sowas passiert nicht nur in München"
Doch offenbar ist der Fall aus München kein Einzelfall: "Sowas passiert nicht nur in München, solche Fälle gibt es an allen türkischen Konsulaten", erzählt die Kölnerin Gönül Örs, deren Mutter, die Sängerin Hozan Canê, in der Türkei wegen angeblicher Terrorunterstützung zeitweise in Haft war. "Ich war kürzlich mit meinem Cousin, der aus der Türkei geflohen ist, im Konsulat in Köln, und auch den wollte die Sachbearbeiterin nicht in die Wählerliste aufnehmen. Ich habe dann einen Aufstand gemacht, dann ging es. Das hat System, man macht den Menschen Angst und viele versuchen es dann gar nicht erst, weil sie denken: 'Ich darf ja sowieso nicht wählen'."
Politikwissenschaftler Çopur: "Konsulate kein sicherer Ort"
So gehen vermutlich zahlreiche Stimmen verloren - wie viele, ist unklar. "Die türkische Botschaft und die Konsulate sind kein sicherer Ort mehr für Oppositionelle und Exiltürken", sagt Professor Burak Çopur, Politikwissenschaftler und Türkei-Experte aus Essen. "Leider haben einige türkische Staatsbürger mittlerweile Angst und Bange, die diplomatische Vertretung ihres Herkunftslandes zu betreten."
Insbesondere politische Aktivisten - zum Beispiel Kurden und Anhänger der Gülen-Bewegung, die Erdogan für den Putschversuch im Jahr 2016 verantwortlich macht - müssten "damit rechnen, dass sie dort bespitzelt oder persönlich angegangen werden können", so der Politikwissenschaftler. "Das ist vor dem Hintergrund der Wahlen in der Türkei besonders problematisch, weil ein Teil der türkischen Staatsbürger nicht von seinem Wahlrecht Gebrauch machen kann."
Ali Ertan Toprak von der Kurdischen Gemeinde Deutschland sieht das genauso: "Es gibt jede Menge Leute, die aus politischen Gründen in Deutschland sind und sich nicht trauen, in die Konsulate reinzugehen, weil sie nicht wissen, was passiert."
Präsident Erdogan, der wegen des schlechten Katastrophenmanagements nach dem verheerenden Erdbeben, der hohen Inflation von offiziell über 50 Prozent, der Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit und der Unterdrückung der Opposition zunehmend unter Druck gerät, scheint unterdessen zunehmend nervös zu werden. So will er den US-Botschafter wegen eines Treffens mit dem Oppositionsführer wenige Wochen vor den Wahlen nicht mehr empfangen.
"Das schickt sich nicht, streng doch dein Hirn etwas an. Du bist Botschafter. Dein Ansprechpartner hier ist der Präsident", sagte Erdogan mit Blick auf US-Botschafter Jeffry Flake, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete. "Als Botschafter musst du deine Rolle kennen. Wie wirst du es nun wagen, um einen Termin beim Präsidenten zu bitten? Unsere Türen haben sich für ihn geschlossen."
- Zum Artikel: Erdbeben in der Türkei: Wer Kritik übt, hat es schwer
Mit Informationen von dpa
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