Polizei steht in der Nähe des Einsatzortes. Bei einer Attacke auf der 650-Jahr-Feier der Stadt hat es Todesopfer und Verletzte gegeben. Die Tatwaffe sei mutmaßlich ein Messer gewesen, hieß es aus Polizeikreisen. Die Polizei löste Großalarm aus.
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23. August: Polizei steht in der Nähe des Einsatzortes in Solingen. Bei einer Attacke auf dem Stadtfest hat es Todesopfer und Verletzte gegeben.

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Terror-Experte: "Ich glaube, der Terror kommt zurück"

Terror-Experte: "Ich glaube, der Terror kommt zurück"

Nach den mutmaßlich islamistischen Anschlägen in Mannheim und Solingen stellt sich die Frage: Kommt der Terror wieder zurück nach Deutschland? Woher kommt eine etwaige neue Terror-Welle und was muss Deutschland jetzt tun? Ein Expertengespräch.

Über dieses Thema berichtet: Possoch klärt am .

Die Messerattentate von Mannheim im Mai und Solingen im August, dazu vereitelte Terrorversuche wie etwa in München werfen die Frage auf: Sind das Ausreißer oder Belege, dass der islamistische Terror zurück nach Europa, zurück nach Deutschland kommt? Terrorismus-Forscher Peter R. Neumann, Professor für Sicherheitsstudien am King's College London und Gründer des International Centre for the Study of Radicalisation, beobachtet die Entwicklung des dschihadistischen Terrors genau. Im BR24-Interview für "Possoch klärt" (Video oben, Link unten) erzählt er, woher der Terror kommt, welche Rolle TikTok dabei spielt und welche Maßnahmen wirklich helfen könnten.

BR24: Kommt der Terror zurück nach Europa?

Peter R. Neumann: Ich glaube schon, dass der Terror zurückkommt. Darauf gibt es auch viele Hinweise, nicht erst Solingen oder der Anschlag in Mannheim. Mein Team und ich haben gezählt, dass es 22 versuchte dschihadistische Anschläge in Europa gab und sieben durchgeführte, also 29 versuchte und durchgeführte Anschläge seit Oktober 2023. Wenn man das vergleicht mit 2022, das ist das letzte Jahr für das Europol Zahlen hat, ist das eine Vervierfachung. Man sieht, das Volumen von dschihadistischer Aktivität hat sehr schnell und relativ dramatisch zugenommen. Deswegen kann man schon davon sprechen, dass diese Art von Terror zurückkommt.

"Dschihadismus ist wieder die größte Bedrohung für Deutschland"

BR24: Was ist Ihrer Ansicht nach die wichtigste Erkenntnis, die man aus Solingen ziehen müsste?

Neumann: Die erste Erkenntnis ist natürlich, dass der Dschihadismus, die dschihadistische terroristische Bedrohung wieder die wahrscheinlich größte Terrorbedrohung für Deutschland ist. Das war einige Jahre lang nicht so. Jetzt ist es wieder so und deswegen muss das wieder gesagt werden. Zweitens muss natürlich die Bekämpfung dieser Gefahr auch wieder priorisiert werden von Staat, Politik und Gesellschaft, ganz besonders natürlich von den Sicherheitsbehörden.

Auch eine weitere Erkenntnis, die aus diesem Anschlag von Solingen rauskommt, ist, und das ist natürlich politisch sensibel, aber es ist trotzdem richtig: Ganz besonders in Deutschland ist feststellbar, dass in den letzten ungefähr acht, neun Jahren ungefähr zwei Drittel der dschihadistischen Attentäter oder Leute, die wegen dschihadistischem Terrorismus festgenommen wurden, aus dem Bereich Flucht und Asyl kamen. Also es waren entweder Asylbewerber oder Flüchtlinge, und deswegen ist es ganz, ganz wichtig, dass sich Sicherheitsbehörden ganz besonders auf diesen Bereich konzentrieren, sowohl mit Präventionsmaßnahmen, Frühwarn-Systeme, aber natürlich auch mit Beobachtung. Das ist der Bereich, aus dem die meisten dieser Attentate zu kommen scheint.

Im Video: Nach Solingen und Mannheim – Kommt der große Terror zurück nach Deutschland? Possoch klärt!

Ist der Islam an allem schuld? Nein.

BR24: Sie sagen selbst, das ist ein politisch sensibles Thema. Wurde womöglich deshalb die Diskussion in den vergangenen Jahren nicht so geführt, wie sie hätte geführt werden müssen?

Neumann: In den letzten Jahren gab es verschiedene Diskussionen, die alle ein bisschen am Ziel vorbeigeführt haben. Die Erste war: Mit dem Sieg über den IS 2019 ist der Dschihadismus gestorben. Das ist nicht richtig. Die zweite Diskussion, die auch nicht ganz zielführend war, bei der ging es um den Islam. Ist der Islam an allem schuld? Was wir jetzt in Solingen gesehen haben, war natürlich ein islamistischer, ein dschihadistischer Terroranschlag. Aber die Tatsache, dass Zweidrittel der Terroranschläge in Deutschland aus diesem Bereich Flucht und Asyl kommen, zeigt eben auch, dass es nicht der Islam per se ist. Denn nur ungefähr 20 Prozent der Muslime in Deutschland sind Flüchtlinge und Asylbewerber. 80 Prozent der Muslime in Deutschland sind keine Flüchtlinge und Asylbewerber. Diese Diskussion um den Islam war eigentlich auch die falsche, weil der Islam nicht die direkte Ursache dieser Art von Terrorismus ist.

BR24: Hat Sie der Anschlag in Solingen überrascht? Ein Anschlag bei einem Großevent wie der Fußball-Europameisterschaft wäre doch eigentlich erwartbarer?

Neumann: Das passt in die Strategie des IS, der sagt, tötet sie dort, wo ihr sie trefft. Das macht auch Sinn aus der Perspektive des IS, weil der IS sagt, wir wollen diesen Leuten in Westeuropa, den vermeintlichen "Ungläubigen", das Gefühl geben, sie können nirgendwo sicher sein, selbst in Solingen, in irgendeinem "Kaff in der Landschaft" besteht eine terroristische Gefahr. Das ist genau die Strategie des Terrors, die zum Ziel hat, ganze Gesellschaften in Angst und Schrecken zu versetzen und eben niemanden dabei rauszulassen.

Im Audio: Terror-Experte Neumann über die Terrorgefahr in Deutschland

Terror-Experte Peter R. Neumann: "Ich glaube, der Terror kommt zurück"
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Terror-Experte Peter R. Neumann: "Ich glaube, der Terror kommt zurück"

Die neue Generation Dschihadisten: "TikTok-Terroristen"

BR24: Sie sprechen auch von einer neuen Generation von Terroristen, von "TikTok-Terroristen". Was genau meinen Sie damit?

Neumann: TikTok steht als ein Symbol für eine Plattform, die ganz, ganz junge Menschen anspricht. Und wir haben auch in den letzten zehn, elf Monaten sehr viele Teenager, die wegen Terrorismus festgenommen wurden. TikTok ist eine Plattform, die sehr stark algorithmisch amplifiziert ist. Das bedeutet, wenn ich einmal auf einen Islamisten draufklicke, dann kriege ich nur noch Islamisten eingespielt, weil das Programm oder die Plattform vermutet: Das ist es, was mich interessiert, und ich kriege sogar das ganze Netzwerk dazu geliefert, also andere Islamisten, andere Dschihadisten, die mich möglicherweise noch tiefer in diese Blase hineinführen. Das ist ein Problem mit TikTok, aber auch mit anderen Plattformen. Instagram taucht auch immer wieder auf.

Wenn es dann operativ wird, also wenn es dann um die Planung eines terroristischen Anschlags geht, da stehen dann Plattformen wie Telegram im Vordergrund, die verschlüsselt sind und die private Konversation ermöglichten. Aber TikTok und andere großen sozialen Medienplattformen sind wichtig am Anfang des Prozesses der Radikalisierung.

BR24: Gibt es schon so eine Art Archetypus des "TikTok-Terroristen"?

Neumann: Fast zwei Drittel derjenigen, die in den letzten elf Monaten wegen Terrorismus festgenommen wurden in Westeuropa, waren Teenager, also 19 Jahre und jünger. Und wir sehen, dass die Rolle von Ideologie abgenommen hat. Vor 20 Jahren hatten sie noch Leute, die sich tatsächlich für Ideologie und Theologie interessiert haben. Die hatten Interesse an den verschiedenen Konstellationen und Meinungsverschiedenheiten innerhalb der islamistischen oder dschihadistischen Theologie. Das ist jetzt ganz selten der Fall, das sind fast nur noch Gewaltfantasien, die da versucht werden, auszuleben. Das ist natürlich auch eine Riesenherausforderung für Präventionsanbieter, diese Leute erstens zu finden und dann zweitens mit denen eine Art Dialog aufzunehmen. Denn es geht ja eigentlich gar nicht mehr so sehr um die Sache, sondern es geht um den Hass auf die Gesellschaft.

"Alle Anstrengungen auf das Problem richten: Flucht und Asyl"

BR24: Stichwort Prävention. Helfen Messerverbote und Waffenverbotszonen?

Neumann: Der IS setzt darauf, mit einfachsten Mitteln Anschläge durchzuführen. Das Messer ist eines davon. Aber wenn das Messer tatsächlich so verboten werden kann, dass es nicht mehr erhältlich ist, was ich bezweifle, aber selbst, wenn das möglich wäre, würden die Terroristen auf ein anderes Mittel ausweichen. Was helfen würde, wäre tatsächlich, wenn man alle Anstrengungen auf genau das Problem richtet: In Deutschland haben wir ein Problem im Bereich Flucht und Asyl. Da kommen viele Anschläge her. Deswegen müssen wir uns überlegen: Machen wir da genug? Reichen unsere ganzen Instrumente, die wir einsetzen zur Terrorismusbekämpfung, Frühwarnsysteme? Die Leute, die dort arbeiten, müssen die mehr sensibilisiert werden für Warnzeichen der Radikalisierung, beobachten wir genug in diesem Bereich und machen wir genug im Internet?

Die größere Frage, die dann die Politik entscheiden muss, ist natürlich: Was machen wir mit diesem Themenkomplex Migration und Asyl? Da gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man sagt, mit diesen schlechten Integrierten, wir investieren noch mehr in die Integration und hoffen, dass das gelingt oder wir sorgen dafür, dass gar nicht so viele Leute ins Land kommen. Darum dreht sich jetzt die politische Debatte. Aber in der Zwischenzeit, kann man sehr viele kleinere Stellschrauben angehen und daran drehen, um sich besser auf dieses Problem zu konzentrieren.

BR24: Wie steht Deutschland im europäischen Vergleicht da?

Neumann: Wir hatten in Deutschland jetzt zwei größere Anschläge. Der Anschlag am Breitscheidplatz, der jetzt schon wieder acht Jahre her ist und nun der Anschlag in Solingen. Ich glaube, in Frankreich wäre man glücklich, wenn man nur so wenig Anschläge gehabt hätte. Wir machen nicht alles falsch, das bedeutet nicht, dass man vieles nicht noch besser machen könnte. Aber man soll bitte nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass die Situation in Deutschland am schlimmsten sei. Das ist nämlich ganz bestimmt nicht richtig.

BR24: Danke für das Gespräch.

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