Vor der ersten Stichwahl um das Präsidentenamt in der Geschichte der Türkei hat der Koordinator der Wahlbeobachtermissionen von OSZE und Europarat größere Chancengleichheit angemahnt. Es dürfe nicht der Fehler wiederholt werden, dass die Regierungsseite eindeutig in den Medien bevorzugt werde, sagte Michael Link (FDP) dem "Tagesspiegel" (Dienstag). Bei der Stichwahl am 28. Mai treten Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan und der Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu gegeneinander an.
- Zum Artikel: Erdoğan und Kılıçdaroğlu gehen in die Stichwahl
Bei der Präsidentschaftswahl am Sonntag hatte Erdoğan laut vorläufigen Endergebnissen zwar die meisten Stimmen erhalten und damit gewonnen. Die erforderliche absolute Mehrheit von mehr als 50 Prozent verpasste er aber knapp. Herausforderer Kılıçdaroğlu fehlten dafür mindestens fünf Prozentpunkte. Der 69 Jahre alte Erdoğan ist seit 20 Jahren an der Macht. Umfragen hatten ein knappes Rennen vorausgesagt, aber Kılıçdaroğlu vorn gesehen.
Erdoğan und AKP kontrollieren die meisten Medien im Land
Die Wahlen fanden unter sehr ungleichen Voraussetzungen statt: Erdoğan und seine AKP kontrollieren die meisten Medien im Land. Ihre Deutung der Dinge kommt de facto sehr viel mehr zum Beispiel im Fernsehen vor. Auch bei der Verteilung der Wahlmittel gab es große Ungleichheiten zwischen Regierung und Opposition.
Es ist das erste Mal in der Geschichte der Türkei, dass es zur Stichwahl um das Präsidentenamt kommt. Die 61 Millionen Wähler im Inland sind in knapp zwei Wochen erneut dazu aufgerufen, ihren Stempel unter einem der beiden Kandidaten zu machen. Auch die 3,4 Millionen Wahlberechtigten im Ausland müssen erneut an die Urne treten. "Das ist die wichtigste Wahl dieses Jahres - auf der ganzen Welt", sagte Alexander Graf Lambsdorff, Außenpolitiker und stellvertretender Fraktionsvorsitzender (FDP) in der ARD-Sendung "Hart aber fair".
Stichwahl: Wen unterstützt der Drittplatzierte?
Offizielle Prognosen, wer die besseren Chancen hat, gibt es noch keine. Entscheidend wird unter anderem sein, wie sich die Wähler vom drittplatzierten Sinan Oğan von der Ata-Allianz entscheiden, der nicht in die Stichwahl zieht. "Oğan selber kommt aus dem völkisch-nationalistischen Lager, was vorerst ein Vorteil für Erdoğan heißen könnte", erklärt Sozialwissenschaftler Kemal Bozay im Gespräch mit BR24. Auch kommt es darauf an, wie viele Wähler Kılıçdaroğlu erneut mobilisieren kann nach der Enttäuschung über eine erste Quasi-Niederlage, die für viele seiner Anhänger unerwartet kam. Für Bozay steht die Türkei am Scheideweg: "Entweder die neo-osmanischen Autokratie auszudehnen oder doch noch den Weg in eine parlamentarische Demokratie zu wählen."
Zur ersten Wahlrunde sagte Wahlbeobachter Link, es habe Unregelmäßigkeiten gegeben, aber weniger am Wahltag selbst, sondern während des Wahlkampfes zuvor. "Diese Wahl wurde charakterisiert von einer ganz überragenden Präsenz von Präsident Recep Tayyip Erdoğan in den Medien, und zwar durchweg positiv. Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu hatte hingegen große Probleme, in den Medien vorzukommen. Gelang ihm das, war es meist negativ", sagte Link.
Chef-Wahlbeobachter: Keine Fehler bei der Auszählung
Sein Team habe bislang keine Fehler bei der Auszählung "im Sinne von Manipulation oder Fälschung" festgestellt, sagte Link. Die "sehr intransparente Art und Weise, wie die oberste Wahlbehörde die Ergebnisse präsentiert", müsse aber dringend verbessert werden.
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) beobachtet Wahlen, "um zu beurteilen, in welchem Ausmaß die Wahlprozesse durch Gleichheit, Allgemeingültigkeit, politischen Pluralismus, Vertrauen, Transparenz und Verantwortlichkeit gekennzeichnet sind und inwieweit dabei die Grundfreiheiten geachtet werden".
Erdoğan-Allianz behält Mehrheit im Parlament
Zur Wahl des Parlaments gab es noch keine vorläufigen Endergebnisse. Laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu hält die Allianz um Erdoğan aber weiter ihre Mehrheit. Sie hat voraussichtlich weniger Sitze als in der vorigen Regierungsperiode, aber eine absolute Mehrheit. Das Parlament ist unter Erdoğan stark entmachtet worden. Dennoch könnte die AKP ihre Mehrheit dort dazu nutzen, Kılıçdaroğlu zu blockieren, sollte er die Stichwahl gewinnen.
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock würdigte die hohe Beteiligung von knapp 89 Prozent an der Präsidentenwahl. Die türkischen Wählerinnen und Wähler hätten von ihrem demokratischen Wahlrecht nicht nur Gebrauch gemacht, sondern mit einer enorm hohen Wahlbeteiligung, sagte die Grünen-Politikerin am Montag am Rande eines Besuches in der saudi-arabischen Hafenstadt Dschidda. "Das macht deutlich, wie stark sie für ihre demokratischen Verfahren eintreten auf bemerkenswerte Weise."
Kurdische Gemeinde: "Das ist auch ein Problem für Deutschland"
Derweil kritisierte der Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde in Deutschland, Ali Ertan Toprak, das Wahlverhalten der wahlberechtigten Türken in Deutschland. "Die Menschen, die hier die Demokratie genießen, unterstützen eine Autokratie in der Türkei", sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND/Dienstag). "Das ist auch ein Problem für Deutschland." Das Ergebnis der Wahlen sei enttäuschend. "Die national-islamistische Ideologie hat gewonnen. Und Erdoğan geht als Favorit in die Stichwahl. Ich sehe für die nächsten Jahre nichts Gutes." Auf Erdoğan entfielen nach letztem Stand knapp zwei Drittel der Stimmen von Türken in Deutschland.
Auch die Deutsch-Türkische Parlamentariergruppe reagierte ernüchtert auf das vorläufige Ergebnis der Präsidentenwahl. Der Vorsitzende Max Lucks (Grüne) sagte der "Rheinischen Post": "Die Hoffnung in ein Ergebnis, welches Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wieder stärken könnten, wurde nicht in Wahlergebnisse übersetzt." Mit Sorge blicke er auf laufende Desinformationskampagnen, die Erdoğan trotz laufender Auszählungen als Gewinner darstellten. "All das bereitet mir große Sorge, denn das Regierungslager hat offensichtlich kein Interesse an einem fairen Wahlkampf." Lucks war als Wahlbeobachter für den Europarat in die Türkei gereist.
Krisenthemen keine große Rolle für Türkei in Deutschland
Sozialwissenschaftler Bozay sagte gegenüber BR24, dass das Ergebnis zeige, dass Erdoğan weiter großen Einfluss auf die Türken in Deutschland habe. "Zu vermuten ist, dass die Krisenthemen in der Türkei, allen voran die Wirtschaftskrise und die Folgen der jüngsten Erdbebenkatastrophe keine Relevanz für ihr Wahlverhalten hatte", so Bozay. Hinzu käme, dass viele Türken in Deutschland durch den medialen und politischen Einfluss weiterhin an dem Personenkult Erdoğans hängen würden.
Mit Informationen von dpa
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