Die Wahlnacht in der Türkei am vergangenen Sonntag war ein wahrer Krimi: Es waren unterschiedliche Zahlen im Umlauf, beide Seiten warfen sich Unregelmäßigkeiten vor. Spät am Abend war dann klar, dass weder Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan noch Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu über die 50-Prozent Hürde gekommen waren. Am 28. Mai geht es nun in der Türkei in die Stichwahl. Türken und Türkinnen im Ausland können ab heute ihre Stimme abgeben und mitentscheiden, ob Erdoğan das Land weitere fünf Jahre regieren oder ob es einen Neuanfang unter Kılıçdaroğlu geben soll. In Bayern sind rund 170.000 Menschen wahlberechtigt, bundesweit eineinhalb Millionen. Die Abstimmung ist bis zum 24. Mai am Abend möglich. Die Stimmen werden dann in die Türkei geflogen und nach der Wahl dort ausgezählt.
Nach Angaben der türkischen Wahlkommission lag Erdoğan im ersten Wahlgang mit 49,5 Prozent vor Kılıçdaroğlu, der 44,9 Prozent auf sich vereinte. Der dritte Kandidat Sinan Oğan kam auf knapp 5,2 Prozent der Stimmen. Beide Seiten buhlen nun um die Gunst der Wähler des Rechtsaußen-Kandidaten.
Erdoğan und Kılıçdaroğlu rufen Türken zur Wahl auf
Präsident Erdoğan rief die Türken im Ausland zur Stimmabgabe auf. "Ich erwarte von Ihnen, den Vertretern unserer Nation im Ausland, dass Sie noch einmal stark für Ihren Willen eintreten", schrieb Erdoğan auf Twitter. Auch Kılıçdaroğlu rief Türkinnen und Türken zur Wahl auf. Die Stimme abzugeben sei eine "nationale Pflicht", denn die Wahl sei "der letzte Ausweg" für das Land, sagte er in einem Video.
In München stimmten 62,2 Prozent für Erdoğan
In Deutschland ist die Zustimmung für Erdoğan traditionell größer als in der Türkei selbst. Bundesweit erhielt der 69 Jahre alte Amtsinhaber im ersten Wahlgang 65 Prozent der Stimmen, der 74 Jahre alte Kılıçdaroğlu 33 Prozent. Besonders groß war die Zustimmung in Essen mit 77,4 Prozent, in München waren es 62,2 Prozent. Nur in Berlin lagen die beiden Kandidaten gleichauf.
Der Arzt Cihan Çelik, der nach der Erdbebenkatastrophe vom Februar als Arzt im Katastrophengebiet unterstützt hat, schrieb auf Twitter: "Das ist bestürzend. Die europäisch orientierten, progressiven Bürger in der Türkei, die gerne in Deutschland arbeiten und Freiheiten genießen würden, ärgert das am meisten."
Experten sehen mehrere Gründe für die hohen Zustimmungswerte für Erdoğan in Deutschland. Soziale Probleme in der Türkei wie die Wirtschaftskrise, die Teuerung, der Wertverlust der Lira, die Arbeitslosigkeit und das Erdbeben spielten für hiesige Wähler kaum eine Rolle, sagte der Sozialwissenschaftler Kemal Bozay vom Institut für Radikalisierungsforschung in Essen im Gespräch mit BR24.
Experten nennen zudem historische Gründe. Die Gastarbeitermigration habe viele religiös-konservative Menschen nach Deutschland gebracht. In den USA oder Großbritannien ist die türkische Community anders zusammengesetzt - mit vielen Akademikern und Menschen, die die Türkei nach dem Putsch 1980 verlassen haben. Dort erhielt Erdoğan deutlich weniger Stimmen als in vielen europäischen Ländern.
Forscher: Medialer Einfluss ausschlaggebend für Wahlverhalten
"Die Tatsache, dass 65 Prozent der wahlberechtigten Deutsch-Türken für Erdoğan gestimmt haben, zeigt, dass Erdoğan und seine AKP immer noch einen starken Einfluss auf diese Gruppe haben", so Bozay. "Ich denke, dass hier vor allem der mediale Einfluss, aber auch der Einfluss der Moschee-Gemeinden rundum DITIB und Milli Görüş von Bedeutung sind.“ So sei in den Moscheen aktiver Wahlkampf für Erdoğan betrieben worden. Zudem hätten AKP-nahe Lobbyorganisationen wie die Union Internationaler Demokraten (UID) und türkisch-islamische Unternehmerverbände auch im Ausland aktiven Wahlkampf für den amtierenden Präsidenten betrieben. Auch Ablegerverbände der rechtsextremen MHP hätten um Stimmen für Erdoğan und die MHP geworben.
Erdoğan als "Rächer" gegenüber Deutschland
Bozay: "Nicht zuletzt tritt auch hier die Tatsache hervor, dass viele Deutsch-Türken in dem Kult Erdoğan auch einen Befreier sehen, der mit Europa und anderen Teilen der Welt in Abrechnung geht. Die eigenen erlebten Rassismus- und Ausgrenzungserfahrungen hierzulande bilden eine wichtige Grundlage dafür, dass sie an Erdoğan festhalten, der gerne gegenüber Deutschland und Europa als Rächer auftritt."
Viele türkischstämmige Menschen kritisieren das Abstimmungsverhalten scharf, so zum Beispiel auch Danyal Bayaz, Finanzminister in Baden-Württemberg (Grüne): "Bei aller berechtigten Kritik an integrationspolitischen Versäumnissen der Mehrheitsgesellschaft. Das kann niemals Grund dafür sein, Erdoğans autoritären & antidemokratischen Kurs zu unterstützen. Mich macht das fassungslos, mich macht das ratlos", schrieb er auf Twitter.
"Ich sehe doch, was Erdoğan für das Land gemacht hat"
Doch warum stimmen so viele Türkinnen und Türken in Deutschland für Erdoğan? Warum halten ihn viele türkischstämmige Deutsche für einen guten Politiker? Ayşe ist 55 Jahre alt und hat eine Änderungsschneiderei. Sie lebt seit mehr als 50 Jahren in einer bayerisch-schwäbischen Kleinstadt. Sie sei religiös, trage aber kein Kopftuch. "Wir haben die deutsche Staatsbürgerschaft, deswegen können wir nicht wählen. Wenn wir die Möglichkeit hätten, würden wir Erdoğan wählen“, sagt die Frau, die in Wirklichkeit anders heißt. Sie möchte nicht, dass ihr wirklicher Name genannt wird.
Die Opposition gebe Erdoğans Vorhaben nur contra, ohne Lösungen anzubieten. Sie verweist auf große Infrastrukturprojekte, bessere Straßen und die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei in den vergangenen Jahrzehnten. "Ich sehe doch, wie es mit dem Land und mit der Bevölkerung seit 20 Jahren drastisch aufwärts geht", erzählt Ayşe.
Als Beispiel erzählt sie: "Meine Eltern sind mit uns als Kind jedes Jahr für vier Wochen immer vollgepackt mit dem Auto in die Türkei gefahren und haben alles Mögliche mitgebracht, weil es nichts gab. Heute gibt es alles. Ich sehe doch, was Erdoğan für das Land gemacht hat.“ Sie habe die Tradition beibehalten und fahre auch jedes Jahr mit ihrer Familie in die Türkei.
Die Türkei wird von einer hohen Inflation gebeutelt, viele Menschen kämpfen ums Überleben. Doch Ayşe meint: "Das ist doch hier nicht anders. Es gibt doch auch hier viele Rentner, die kaum Geld haben und sich nichts mehr leisten können." Sie arbeite acht Stunden am Tag, ihr Mann zwölf Stunden, ihre Kinder studierten und arbeiteten nebenbei. "Wir arbeiten viel. Freunde und Bekannte in der Türkei, die das genauso machen, denen geht es gut. Aber es gibt immer Menschen, die die volle Freiheit ausleben und trotzdem nur am Jammern sind."
Opposition hofft auf die zweite Runde
Viele Anhänger der Opposition in Deutschland sind nach der ersten Wahlrunde frustriert und enttäuscht. Sie hoffen nun auf die zweite Runde. Kılıçdaroğlu werde in der zweiten Runde gewinnen, sagt Güley Kılıç von der CHP in München und gibt sich siegessicher. Er verweist auf die Istanbuler Bürgermeisterwahl im Jahr 2019. Damals hatte Ekrem Imamoğlu (CHP) die Wahl zum Bürgermeister von Istanbul knapp gegen den Kandidaten der regierenden Partei AKP gewonnen. Die Wahlkommission annullierte das Ergebnis damals auf Antrag der AKP. Die Wahl wurde wiederholt - Imamoğlu gewann erneut.
Bei der ersten Wahlrunde am vergangenen Sonntag beklagte die CHP Unregelmäßigkeiten. Auch wenn das Ergebnis wahrscheinlich nicht geändert werde, habe man Beschwerde eingelegt, so die CHP. Demnach gibt es Unregelmäßigkeiten an Tausenden Wahlurnen, sagte Vize-Parteichef Muharrem Erkek vor wenigen Tagen. Sie reichten von einer einzigen bis hin zu Hunderten falsch gezählten Stimmen. Es seien fast 3.000 Wahlurnen für die Präsidentenwahl und mehr als 4.800 Wahlurnen für die zeitgleich stattgefundene Parlamentswahl beanstandet worden. Die Wahlbehörde will die Einsprüche prüfen.
Mit Informationen von dpa, AFP
Im Video: Stichwahl in der Türkei beginnt in Deutschland
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