Zerstörte Wohnblocks in Mariupol
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Zerstörte Wohnblocks in Mariupol

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"Der Beschuss hört nicht auf": Das Grauen von Mariupol

Tod, Zerstörung, Hunger, Kälte: In der von der russischen Armee belagerten Hafenstadt Mariupol wird die Lage immer dramatischer. Nach Geburtsklinik und Theater wurde nun auch noch eine Schule bombardiert.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Die Bilder der bombardierten Geburtsklinik und des zerstörten Stadttheaters gingen um die Welt. Und doch zeigen sie nur einen Bruchteil der Zerstörung in Mariupol. Von Rauch verkohlte Häuserskelette, zertrümmerte und ausgebrannte Autos und geplünderte Geschäfte – in der umkämpften ukrainischen Hafenstadt breitet sich das Grauen aus.

Am Sonntag warf die Ukraine den russischen Streitkräften vor, ein Schulgebäude in Mariupol beschossen zu haben. In der Kunstschule G12 hätten sich zur Zeit des Angriffs rund 400 Schutzsuchende aufgehalten, "Frauen, Kinder und ältere Menschen", erklärte die Stadtverwaltung. Angaben zu möglichen Opfern gab es noch nicht.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bezeichnete die Angriffe auf die Stadt am Asowschen Meer als "Terror, an den man sich noch Jahrhunderte lang erinnern wird". Am Mittwoch erst hatten russische Einheiten das Theater in Mariupol angegriffen, in das sich hunderte Einwohner geflüchtet hatten - und obwohl demnach vor beiden Seiten des Gebäudes gut sichtbar das Wort "Kinder" auf Russisch auf den Boden gemalt war.

"Mein Haus brennt, alle zwölf Etagen"

Mariupol wird seit Wochen belagert. Die russische Armee hatte am Freitag erklärt, sie sei in die strategisch wichtige Stadt eingedrungen. Wer kann, der flieht. Doch das ist gefährlich. Und immer mehr Bürger aus Mariupol, die raus sind und wieder Zugang zu Strom und Internet haben, veröffentlichen bei Telegram Handyvideos von den schweren Zerstörungen in der Industriestadt.

"Mein Haus brennt, alle zwölf Etagen", sagt ein Mann, während er das in Flammen stehende Gebäude am Prospekt Mira – der "Straße des Friedens" - filmt. "Kein Leben mehr." Dann ist nur noch ein tränenersticktes Schluchzen zu hören. Es gibt Dutzende Aufnahmen in ukrainischen und russischen Medien aus der Stadt, in der einst rund 440.000 Menschen lebten. Jetzt wird die Zahl der Einwohner noch auf etwa 300.000 geschätzt.

Zehntausende Zivilisten harren weiter in der Stadt aus

"Leider hört der Beschuss nicht auf in der Stadt. Es gibt ständig Straßenkämpfe", informiert der Telegram-Kanal "Mariupol jetzt" am Sonntag die Bürger. Es werde alles getan, um Mariupol zu evakuieren. An den Tankstellen gibt es kaum Benzin, weshalb viele ihre Autos nicht betanken können. Einige Bürger schaffen es dennoch raus aus der belagerten Stadt - an den Autos in einer kilometerlangen Kolonne auf dem Fluchtkorridor von Mariupol Richtung Saporischschja flattern weiße Bändchen, wie aktuelle Fotos zeigen.

Doch Zehntausende Menschen harren weiter in Bombenkellern ohne Strom, fließend Wasser und Heizung aus - mitunter bei Minusgraden. In einem Video sagt ein Mann: "Trauer und Verzweiflung haben diese Erde erfasst."

Auch das Moskauer Staatsfernsehen zeigt Trümmerteile, zerstörte Autos und ausgebrannte Häuser – die Kreml-Propaganda behauptet, ukrainische nationalistische Kämpfer hätten die Gebäude zerstört und Menschen als Geiseln genommen. Wenn sich der Pulverdampf gelegt haben wird, werden sich die Kriegsparteien gegenseitig weiter verantwortlich machen für die Verbrechen – die Tötung vieler Zivilisten, darunter Kinder.

80 Prozent der Wohngebäude beschädigt

Seit Tagen verbreiten sich Aufnahmen im Internet davon, wie Leichen in Gräben verscharrt werden. Die ukrainischen Behörden sprechen von mehr als 2.500 Toten. Rund 80 Prozent der Wohngebäude seien beschädigt, 30 Prozent könnten nur noch abgerissen werden.

Zwei Reporter der Nachrichtenagentur AP, Evgeniy Maloletka und Mstylav Chernov, dokumentierten seit Beginn des Krieges das Leid der Menschen in Mariupol. Ihre Aufnahmen von der zerbombten Geburtsklinik erlangten traurige Berühmtheit. In einem Bericht schilderten sie kürzlich die verzweifelte Lage der Stadt: Lebensmittel gehen aus. Es gibt fast keinen Strom mehr, Wasser ist spärlich, die Einwohner schmelzen Eis zum Trinken und verbrennen Möbelteile, um ihre Hände in der Eiskälte zu wärmen und das bisschen Essen zu kochen, das sie noch haben. Der Tod ist überall. Man hat Familien aufgerufen, ihre Toten an die Straße zu legen, Beerdigungen abzuhalten ist zu gefährlich.

Fluch und Segen: Die Lage von Mariupol

Noch vor Wochen schien Mariupols Zukunft rosig auszusehen. Wenn Geografie das Schicksal einer Stadt bestimmt, dann war Mariupol mit seinen florierenden Eisen-und Stahlfabriken, einem Tiefwasserhafen und einer großen Nachfrage nach beidem auf dem Weg zum Erfolg. Eine Zeitlang träumte die international geprägte Stadt mit ihren vielen Gründerzeitbauten sogar von einer Zukunft als Seebad.

Dann kam der 24. Februar. Eine Radaranlage und ein Flugfeld zählten zu den ersten Zielen russischer Artillerie. Wenige Tage später begann die Belagerung der Stadt. Dieselbe Geografie, die einst Mariupol begünstigte, erweist sich jetzt als fatal. Die Stadt liegt zwischen den zwei von Separatisten kontrollierten Gebieten im Donbass und der 2014 von Russland annektieren Halbinsel Krim. Ihre Einnahme würde den Russen einen Landkorridor und die Kontrolle des Asowschen Meeres in die Hand geben. 

Bürger von Mariupol nach Russland deportiert?

Entsetzt reagiert die Stadtverwaltung am Wochenende auf die Moskauer Fernsehberichte, viele Menschen aus Mariupol seien nach Russland geflohen. Zu sehen sind Menschen, die sich erleichtert zeigen, in Sicherheit zu sein. Die ukrainischen Behörden sprechen hingegen von Verschleppung.

Bürgermeister Wadym Bojtschenko vergleicht das Vorgehen mit dem Abtransport von Zwangsarbeitern während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg: "Nicht nur, dass die russischen Truppen unser friedliches Mariupol vernichten, sie gehen noch weiter und haben begonnen, die Mariupoler aus dem Land zu bringen."

Anmerkung der Redaktion: In einer ersten Version des Artikels hieß es, dass die beiden AP-Reporter die einzig verbliebenen internationalen Berichterstatter in Mariupol sind. Inzwischen haben beide jedoch aus Sicherheitsgründen die Stadt verlassen müssen, wie am Montag (21.3) bekannt wurde.

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