Vor drei Wochen hatten wir zum ersten Mal mit Alex Lissitsa gesprochen, dem Agrarökonomen, Präsidenten der Vertretung der Ukrainischen Agrarwirtschaft, der zugleich auch Geschäftsführer von IMC ist, eines der größten Agrarunternehmen seines Landes. Zwei Wochen waren damals vergangen seit dem Einmarsch der russischen Streitkräfte. Die Lage war bereits dramatisch. In einem Milchviehbetrieb im Norden bei Tschernihiw mit knapp 1.000 Kühen gab es kaum noch Futter, keine Tierarztversorgung mehr, der Strom war ausgefallen, der Treibstoff für die Generatoren ging zur Neige. Auf den Straßen herrschte Lebensgefahr.
Was ist aus den Milchkühen geworden?
Jetzt haben wir Alex Lissitsa wieder erreicht, in Poltawa, an einem anderen Standort des Unternehmens IMC, das neben der Zentrale in Kiew Betriebe in Tschernihiw, Sumy und eben Poltawa unterhält. Wie der ukrainische Präsident Selenskyj in seinen Videoschalten sitzt auch Lissitsa vor einer schmucklosen Wand, in T-Shirt und Freizeitjacke. Er spricht gut Deutsch, hat in Berlin Agrarwissenschaften studiert.
Unsere erste Frage: Wie steht es um den Betrieb in Tschernihiw? Die Antwort: Von den 1.000 Tieren sind noch 700 am Leben. Die anderen haben es nicht geschafft. Als der Mais zu Ende ging, stand als Futter nur noch Silage zur Verfügung. Viele Tiere erkrankten an Mastitis.
Im Video: Alex Lissitsa: Wie der Krieg die Landwirtschaft beeinflusst
Melken von Hand
Schließlich ging der Treibstoff für den Generator aus, berichtet Alex Lissitsa: "Und dann haben die Mitarbeiter die Milchkühe mit der Hand gemolken. Die Dorfbewohner hatten auch zum Teil geholfen. Das hat zwei Tage gedauert, und nach zwei Tagen haben wir doch erreicht, noch einmal bei Nachbarn zwei Tonnen Treibstoff zu holen, damit dann wieder die Tiere gemolken werden. Wenn die Tiere aber nicht rechtzeitig gemolken werden, kommen andere Krankheiten dazu." 300 Kühe haben nicht überlebt. Was mit den anderen passieren werde, könne er noch nicht sagen.
Hoffnung, die russische Armee zu vertreiben
Aber: "Ich gehe davon aus, dass die Russen vertrieben werden aus dem Dorf in den nächsten Tagen. Vielleicht in einer Woche. Da fahre ich natürlich dorthin und werde mich mal vor Ort erkundigen, wie die Lage ist."
In Poltawa, wo er sich gerade befinde, sagt Alex Lissitsa, sei die Lage noch einigermaßen stabil. Im Norden, Richtung Sumy, gebe es eine kleine Stadt namens Ochtyrka. Dort werde derzeit stark gekämpft. In Poltawa, das bekannt sei für seine fruchtbaren Schwarzerdeböden, könne man sich dagegen jetzt auf die Feldarbeiten konzentrieren: "Poltawa ist momentan gut versorgt, wir haben Treibstoff, Saatgut und Pflanzenschutzmittel, alles da."
Lage je nach Region sehr unterschiedlich
Doch wie geht es den vielen anderen landwirtschaftlichen Betrieben in der Ukraine? Alex Lissitsa sagt, das sei je nach Region sehr unterschiedlich: Am besten ausgestattet seien die Betriebe im Westen des Landes, der vom Krieg noch mehr oder weniger verschont sei. Dort seien zwar auch Städte und Dörfer bombardiert worden, aber es habe eben keinen Vormarsch der russischen Armee gegeben. Anderswo sei die Lage viel schlimmer: "Schlecht versorgt ist natürlich die Südukraine, gerade um Cherson, Saporischschja, wo auch immer noch gekämpft wird. Das Gleiche gilt auch für den Osten des Landes. Auch die Region Tschernihiw und die Region Sumy."
Der Landwirtschaft fehlt es an Personal
Ein großes Problem für viele Betriebe nicht nur in der Kriegsregion, sondern auch im Westen des Landes sei der Mangel an Personal. Viele Fachkräfte seien mobilisiert worden für die Streitkräfte, zudem fehlten die Arbeitskräfte, die nach Westen beziehungsweise in die EU geflohen seien, meistens Frauen mit Kindern. Das bedeute, sagt Alex Lissitsa, dass vielerorts nur die wichtigsten Feldarbeiten durchgeführt werden könnten.
Ernte: Im besten Fall die Hälfte
Welche Auswirkungen wird das auf die Erntemenge haben? Das sei schwer zu sagen. Lissitsa rechnet bestenfalls mit der Hälfte der Ernte des letzten Jahres beim Winterweizen, aber auch bei den Sommerkulturen wie Mais, Sonnenblumen und anderen: "Man weiß ja nicht, ob da ausgesät wird, was bestellt wird, wieviel bestellt wird. Also, wir können nun mal mit Sicherheit davon ausgehen, dass die Westukraine vielleicht im vollen Maße die Frühjahrsarbeiten machen wird und auch die Felder bestellen wird. Alles anderes ist ein großes Fragezeichen." Wirklich beantworten könne man die Frage nach den Erntemengen erst Ende April, wenn in den meisten Regionen die Bestellarbeiten abgeschlossen seien.
Versorgung der Ukraine gesichert
Wird die Ernte ausreichen, um zumindest die eigene Bevölkerung versorgen zu können? Ja, sagt Alex Lissitsa, davon gehe er fest aus. Es gebe noch immer Reserven an Weizen, an Mais und Sonnenblumenöl. "Es werden natürlich auch bestimmte Sachen fehlen, vielleicht mal Fleisch und so, Milchprodukte zum Teil auch. Aber ich denke, an Basisnahrungsmitteln wird es keinen Mangel geben."
Schwieriger Export
Ganz anders sehe es beim Export aus. Die meisten landwirtschaftlichen Produkte würden normalerweise exportiert über die Seehäfen am Schwarzen Meer, Odessa, Mykolajiw und Mariupol: "Wie Sie wissen, ist Mariupol im Grunde genommen ja keine Stadt mehr, es ist alles zerbombt worden. Odessa ist noch ein sicherer Hafen. Allerdings sind da auch die Minen, also Seeminen im Schwarzen Meer. Und da ist natürlich die Frage mit dem stark umkämpften Mykolajiw. Da sind sowohl Seeminen als auch Landminen um Mikolajiw herum." Allein die Minen zu entschärfen, werde lange dauern. Die Ukraine werde nicht nur in den nächsten Monaten, sondern auch Jahren nicht in der Lage sein, in vollem Umfang zu exportieren.
Karte: Die militärische Lage in der Ukraine
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