Die ukrainische Armee hat nach Regierungsangaben die Region um die Hauptstadt Kiew wieder vollständig unter ihre Kontrolle gebracht. "Irpin, Butscha, Hostomel und die gesamte Region Kiew wurden vom Feind befreit", erklärte Vize-Verteidigngsministerin Hanna Maliar auf Facebook.
Michailo Podoljak, ein Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj, sprach am Samstag von einem "schnellen Rückzug" der russischen Truppen im Norden des Landes. Die Angreifer würden in den Regionen von Kiew und Tschernihiw zurückfallen. Die russische Armee wolle sich nun "nach Osten und Süden zurückziehen und dort die Kontrolle über große besetzte Gebiete behalten".
Die russische Militärführung hatte vor einigen Tagen auch selbst erklärt, ihre Angriffe auf den Osten und Süden der Ukraine konzentrieren zu wollen.
Bürgermeister berichtet von Massengräbern
Nach dem Rückzug der russischen Armee aus Butscha mussten dort nach Angaben von Bürgermeister Anatoly Fedoruk 280 Menschen in Massengräbern beigesetzt werden, da die drei städtischen Friedhöfe noch in Reichweite des russischen Militärs lagen. Die Straßen der Kleinstadt seien mit Leichen übersät, sagte Fedoruk der Nachrichtenagentur AFP.
Reporter in Butscha sahen in einer einzigen Straße mindestens 20 Leichen liegen. Die Kleinstadt wurde durch die russischen Angriffe verwüstet. Wohnhäuser wurden durch Granatenbeschuss beschädigt und auf den Straßen waren zerstörte Autos zu sehen.
Explosionen erschüttern Enerhodar
Mehrere ukrainische Regionen meldeten derweil heftige Angriffe: In der Großstadt Charkiw wurden Wohngebiete bombardiert, wie die Präsidentschaft mitteilte. Angegriffen wurden auch Orte in den Regionen Donezk und Luhansk im Osten sowie im Süden in der Region Cherson.
In Dnipro und Krementschuk im Landesinneren wurde nach ukrainischen Angaben wichtige Infrastruktur getroffen, darunter die größte Ölraffinerie des Landes. Das russische Verteidigungsministerium erklärte, mit "hochpräzisen Waffen" Treibstofflager zerstört zu haben.
Eine Reihe von Explosionen erschütterte die Stadt Enerhodar in der Nähe des Kernkraftwerks Saporischschja. Die ukrainische Atombehörde Energoatom berichtete von Detonationen und mehreren Verletzten. Sowohl die Stadt als auch die Atomanlage - eine der größten Atomeinrichtungen in Europa - befinden sich nach Angaben der ukrainischen Nachrichtenagentur Interfax-Ukraine seit dem 4. März unter russischer Kontrolle.
Banges Warten auf Evakuierung aus Mariupol
In der stark zerstörten und seit Wochen belagerten Hafenstadt Mariupol hofften viele der schätzungsweise 100.000 verbliebenen Einwohner auf einen neuen Versuch des Roten Kreuzes, mit Bussen evakuiert zu werden. Ein Team von neun Helfern brach dazu in Saporischschja auf, wie ein Sprecher des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in Genf mitteilte.
Zur Rettung von etwa 500 Menschen sollen an diesem Sonntag zehn Busse eingesetzt werden, wie eine Bürgerinitiative im Nachrichtenkanal Telegram bekanntgab. Parallel dazu war nach Angaben von Vize-Ministerpräsidentin Irina Wereschtschuk geplant, Menschen in Privatautos aus Mariupol herauszubringen. Ähnliche Fluchtkorridore sollte es in weiteren umkämpften Städten geben, darunter im westlich von Mariupol gelegenen Berdjansk.
Hoffnung auf neue Verhandlungen
Russland lässt derweil nach Angaben der Ukraine durchblicken, das die Zeit reif ist für Verhandlungen auf höchster Ebene zwischen beiden Ländern. Die Agentur Interfax Ukraine zitiert den zum ukrainischen Verhandlungsteam gehörenden David Arachamia mit den Worten, Russland habe angedeutet, dass man bei den Dokumenten für den Entwurf eines Friedensvertrags so weit vorangekommen sei, dass dies direkte Konsultationen der Präsidenten beider Länder erlaube.
Der russische Regierungssprecher äußerte sich zurückhaltender. Die Verhandlungen seien nicht einfach, es sei aber wichtig, dass sie fortgesetzt würden. Russland habe eine Fortsetzung der Gespräche in Belarus vorgeschlagen, was die Ukraine aber ablehne.
Am Sonntag will sich der stellvertretende UN-Generalsekretär für humanitäre Angelegenheiten, Martin Griffiths, in Moskau für eine "humanitäre Waffenruhe" in der Ukraine einsetzen, wie die UNO mitteilte. Die Zahl der Kriegsflüchtlinge stieg derweil weiter an. Nach UN-Angaben sind inzwischen sind fast 4,14 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen.
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