Archivbild vom 24.9.23: Ukrainische Soldaten von der 92. Brigade zielen mit einer Flugabwehrrakete auf die Frontlinie in der Nähe von Klischtschijiwka bei Bachmut.
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Was hat die ukrainische Gegenoffensive bisher gebracht?

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Militärexperte: "Ukraine zwingt russische Armee in Abnutzung"

Die Gegenoffensive der Ukraine hat keinen Durchbruch gebracht. Dennoch sieht Militärexperte Marcus Keupp im BR-Interview ukrainische Erfolge, äußert sich zum Zustand der russischen Armee und der Bedeutung von Waffenlieferungen.

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Ein Ende des Krieges von Russland gegen die Ukraine ist nicht abzusehen. Die im Sommer begonnene Gegenoffensive der Ukraine hat keinen Durchbruch gebracht. Ukrainische und russische Soldaten stehen einander im Stellungskampf gegenüber, die Frontlinien verändern sich kaum.

Militärxperte sieht große Abnutzung bei russischer Armee

Dennoch heißt das nicht, so der Militärexperte Marcus Keupp im Bayern 2-Interview, dass es keine militärischen Fortschritte oder Erfolge gebe. "Nach wie vor zwingt die Ukraine die russische Armee in eine sehr starke Abnutzung. Die können sie im Moment noch durchhalten", sagt Keupp. "Aber sobald die einsatzfähige Reserve weg ist, dann kommt für die russische Armee der große Moment der Wahrheit." Bei der "derzeitigen Abnutzungsrate" werde das noch etwa drei Monate dauern.

Die russische Kriegsführung lebe immer noch von ihren sowjetischen Reserven. "Und wenn sie eine solche Armee sind, mit so großen Reserven und sie kommen trotzdem nicht voran, dann sagt ihnen das mehr über die russische Armee aus als über die ukrainische Verteidigung", so Keupp, der Dozent für Militärökonomie an der Militärakademie der ETH Zürich ist.

Korridor im Schwarzen Meer: "Größter Erfolg der Gegenoffensive"

Der größte Erfolg der Gegenoffensive ist seiner Ansicht nach, "dass die Ukraine den Schwarzmeer-Korridor für die Getreideexporte wieder befreit hat und die russische Schwarzmeerflotte doch ziemlich stark an ihren Platz verwiesen hat".

"Natürlich hat man sich in der Ukraine mehr erhofft von der Gegenoffensive. Man hat sicher auch die Dichte der russischen Minenfelder unterschätzt", so der Militärexperte im BR-Interview. Aber zögerliche Waffenlieferungen hätten Russland erst die Zeit gegeben, "sich im Gelände einzugraben".

Nato-Generalsekretär: Ukraine mit Waffen versorgen

Die Ukraine hat Waffen im Wert von etlichen Milliarden Dollar von den USA und weiteren Verbündeten gebraucht, um ihre Kriegsanstrengungen aufrechtzuerhalten. Nun gehen die Vorräte etwa an Artilleriegranaten zur Neige, und das Ausland hält sich bei der Hilfe eher zurück. Am Dienstag erst hat Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bei einem Außenministertreffen des Militärbündnisses Durchhaltevermögen bei der Unterstützung gefordert. "Es ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass wir die Ukraine mit den Waffen versorgen, die sie braucht", sagte er in Brüssel.

Osteuropäische Nato-Länder warnen angesichts der ausbleibenden militärischen Erfolge gegen Russland seit Monaten vor "Ukraine-Müdigkeit". Vor allem im Baltikum wird befürchtet, die Ukraine könne aus einer Position der Schwäche zu Verhandlungen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin gezwungen sein.

Nato-Gipfel berät über weitere Unterstützung für Ukraine

Treffen der Nato-Außenminister
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Treffen der Nato-Außenminister

"Neues Technologieniveau"

Der Militärexperte Keupp erwähnt, dass sich der Ukraine-Krieg gerade in ein neues Technologieniveau hineinentwickele und verweist dabei auf hochentwickelte Drohnen. Die Ukraine brauche für die Erreichung ihrer Ziele entweder eine deutliche Technologie-Überlegenheit oder eine Überlegenheit beim konventionellen Material, sagt Keupp.

Darauf habe der Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee, Walerij Saluschnyj, hinweisen wollen, als er dem "Economist" sagte, die Gegenoffensive im russischen Angriffskrieg sei zum "Stillstand" gekommen. "Weil wenn das nicht passiert – das heißt, wenn der Westen zu zögerlich agiert", so Keupp, "dann besteht tatsächlich Gefahr, dass eine solche Erstarrung eintreten könnte. Aber man muss auch ganz klar sagen: Die nutzt dann natürlich den Russen."

"Journalistisch konstruierte Angsterwartung"

Dass mit einer eventuellen Wiederwahl von Donald Trump zum US-Präsidenten die Waffenlieferungen aufhören, nannte Keupp eine "journalistisch konstruierte Angsterwartung". Die US-Waffenlieferungen in die Ukraine würden derzeit über die Presidential Drawdown Authority kommen, das Exekutivrecht des Präsidenten. "Angenommen so ein Fall wäre absehbar, dann würde man natürlich diese Waffenlieferungen – Biden – im Voraus festlegen." Über die Presidential Drawdown Authority kann der US-Präsident in Notfällen ohne Zustimmung des Kongresses über US-Militärbestände verfügen und sie direkt an die Ukraine liefern lassen.

Zudem sei das Interesse, die Ukraine gegen Russland zu stützen, in den USA "administrationsübergreifend" und nicht nur an die Person des Präsidenten gebunden, so Keupp. Gerade unter Trump sei die Ukraine mit Panzerabwehrwaffen ausgestattet und die ukrainische Armee ausgebildet worden, "weil diese Administration, nicht nur die Person Trump, sondern die Menschen im Hintergrund gesagt haben, die Russen werden wieder kommen und sie werden wieder versuchen, ihren Machtbereich vorzuschieben, also müssen wir jetzt was machen, damit die Ukraine in der Zukunft sich wehren kann".

Baerbock bekräftigt Unterstützung

Weil sich der Krieg zuletzt zu einem Stellungskrieg entwickelte und die letzte Gegenoffensive nicht die von manchen erhofften Erfolge brachte, hatten Militärs zuletzt infrage gestellt, ob die Ukraine in der Lage ist, im nächsten Jahr noch einmal eine neue Gegenoffensive zu starten. Dazu befragt, entgegnete die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock: "So schwer, so anstrengend, so festgefahren die Situation scheint, wir werden die Ukraine weiter unterstützen – so lange sie uns braucht."

Man tue alles dafür, dass die Ukraine auch im nächsten Jahr so viele Dörfer und Städte befreien könne wie möglich, sagte sie am Dienstag bei einem Nato-Außenministertreffen in Brüssel. Laut Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat die Ukraine rund 50 Prozent des von Russland besetzten Territoriums wieder befreien können.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bekräftigte die militärische Unterstützung Deutschlands für die Ukraine ungeachtet des Haushalts-Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Die Ukraine könne sich "auf Deutschland und seine Unterstützung verlassen". Russlands Präsident Putin dürfe nicht mit seinem "Raubzug" gegen die Ukraine davonkommen.

Rekrutierungs-Problem in der Ukraine

Nach eigenen Angaben hat die Ukraine eine Million Menschen unter Waffen stehen. Männern im wehrfähigen Alter ist es verboten, ins Ausland zu gehen. Das Programm zur Mobilmachung ist Staatsgeheimnis, ebenso die Zahl der auf den Schlachtfeldern getöteten und verletzten Soldaten.

Die Rekrutierung findet weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Männer werden auf offener Straße, in der U-Bahn oder an Kontrollstellen angehalten und bekommen ihre Einberufungspapiere ausgehändigt. Sie werden angewiesen, sich bei den Rekrutierungszentren zu melden. Immer wieder werden Fälle bekannt, dass sich Männer durch Bestechung entziehen wollen.

Zuletzt gab es nach britischer Einschätzung Erfolge für die russischen Truppen. Russische Truppen sind nach britischer Einschätzung von Dienstag weiter auf die umkämpfte Stadt Awdijiwka im Osten des Landes vorgerückt. Seit Anfang Oktober seien die Russen hier bis zu zwei Kilometer weit vorgerückt. "Obwohl bescheiden, bedeuten diese Fortschritte die größten russischen Geländegewinne seit Frühling 2023", hieß es in London weiter. "Sie haben die beteiligten Einheiten Tausende Opfer gekostet."

Im Video: ARD-Korrespondent Vassili Golod über Lage im Russland-Ukraine-Krieg

Wie sehen die Ukrainer ihre Lage momentan? Gibts noch genug Hoffnung auf einen Sieg trotz festgefahrener Fronten? Aus der Ukraine berichtet ARD-Korrespondent Vassili Golod.
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Aus der Ukraine berichtet ARD-Korrespondent Vassili Golod.

Mit Informationen von dpa, Reuters und AFP

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