Eine junge Familie nach dem Erdbeben zwischen zerstörten Häuserreihen in der türkischen Provinz Hatay (Archiv: 12.02.2023)
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Eine junge Familie nach dem Erdbeben zwischen zerstörten Häuserreihen in der türkischen Provinz Hatay (Archiv: 12.02.2023)

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"Unmenschlich" – Kritik an Visa-Erleichterung nach den Erdbeben

Menschen wollen ihre Verwandten nach den schweren Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet nach Deutschland holen. Die Bundesregierung hatte Visa-Erleichterungen angekündigt. Doch die bürokratischen Hürden sind für Betroffene kaum zu stemmen.

Über dieses Thema berichtet: BAYERN 3-Nachrichten am .

Nach den Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet wurden bislang fast 44.000 Tote geborgen – viele Überlebende stehen vor dem Nichts und müssen bei katastrophalen Bedingungen in provisorischen Unterkünften leben. In Deutschland kämpfen Familienangehörige mit türkischen Wurzeln darum, ihre Verwandten zu sich holen zu können – doch das scheint trotz Zusagen der Bundesregierung nahezu unmöglich.

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"Unsere Verwandten leben fast alle in Zelten"

Die Angst um ihre Angehörigen im türkischen Katastrophengebiet bringt Suna Cataldegirmen im weit entfernten Deutschland zur Verzweiflung. Ihr Mann ist schon vor einer Woche in die Türkei geflogen: in die schwer getroffene Provinz Kahramanmaras. Dort hat er für seine Eltern in einem Dorf nahe der Stadt Pazarcik eine Notbehausung in einem Keller eingerichtet. "In dem Dorf ist alles weg", berichtet die 43-jährige Cataldegirmen. "Unsere Verwandten leben fast alle in Zelten. Die hygienischen Zustände sind schlimm, sie können nicht duschen, manchmal reicht das Essen nicht. Es ist sehr kalt. Es gibt kaum ärztliche Versorgung."

"Für meine Mama würde ich auf dem Boden schlafen"

In Hamburg atmet Zöhre Karali einerseits auf: "Meine Eltern und meine zwei Geschwister leben." Aber: "Sie wissen nicht, wie es weitergeht. Sie brauchen Gewissheit. Einige Verwandte werden noch vermisst." Zugleich trauert Karali um Verstorbene. Serkan Sayin würde seine Mutter am liebsten sofort persönlich aus dem Katastrophengebiet nach Ahlen bringen. Er schafft es kaum noch, Geduld aufzubringen. Seine Wohnung, in der er mit Frau und zwei Kindern lebt, sei nicht groß, sagt er: "Aber für meine Mama würde ich auf dem Boden schlafen, sie könnte sofort mein Bett haben."

Familienangehörige nach Deutschland zu holen – fast unmöglich

Die Bundesregierung hat ein unbürokratisches Visaverfahren angekündigt, damit Erdbebenopfer schnellstmöglich in Deutschland unterkommen können. Betroffene brauchen laut Auswärtigem Amt ein Visum, wenn sie bei ihren Angehörigen ersten oder zweiten Grades für bis zu drei Monate leben wollen. Das aufnehmende Familienmitglied muss eine Erklärung abgeben, in der es sich verpflichtet, für den Lebensunterhalt und die spätere Ausreise aufzukommen.

Mehmet Demir aus Dinslaken bemängelt: "Das Ganze ist total kompliziert." Der Reiseunternehmer ist gerade aus der Türkei zurückkehrt, viele seiner Angehörigen haben bei der Katastrophe ihr Leben verloren. Seine Nichte sei aus den Trümmern gerettet worden. Die 16-Jährige und die Schwiegereltern will er zu sich holen, hat sie zunächst in ein Hotel in Antalya gebracht. Um die Visa zu beantragen, habe er es telefonisch in Antalya versucht, sei nach Izmir, dann auf eine Webseite verwiesen worden. "Keine Ansprechpartner. Wenn man keine Connections hat, hat man keine Chance", beklagt Demir.

Linken-Abgeordnete kritisiert Bundesregierung – "unmenschlich"

Trotz der Visa-Erleichterungen ist die beim Auswärtigen Amt einzusehende Liste vorzulegender Dokumente lang. Die Bundestagsabgeordnete Clara Bünger (Die Linke) ist "fassungslos", sie schreibt auf Twitter: "Wer nicht zufällig zum Zeitpunkt des Erdbebens einen Aktenordner mit allen wichtigen Dokumenten bei sich hatte, als das Haus einstürzte, wird von dieser Bundesregierung im Stich gelassen. Es ist absolut unverständlich und unmenschlich."

In der Türkei werden Visaanträge für Deutschland vom Dienstleister iData bearbeitet. Die nächste Filiale in der Erdbebenregion – Gaziantep – ist aber wegen Gebäudeschäden dicht. Antragsteller müssen etwa nach Izmir oder Ankara ausweichen, wobei Ankara rund 600 Kilometer vom Epizentrum Kahramanmaras entfernt liegt. Abhilfe solle bald kommen, sagt ein Mitarbeiter vor Ort der dpa.

"Darauf achten, wer zu uns kommt" – Faeser weist Kritik zurück

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) wies die Kritik an zu hohen Hürden bei der Visa-Vergabe zurück. "Mehr können wir an dieser Stelle an Erleichterung kaum machen", sagte sie am Mittwoch der "hessenschau extra" im Hessischen Rundfunk. Man werde aber gegebenenfalls nachbessern, etwa beim Personal der Ausländerämter. Faeser verwies auf Vereinbarungen mit den türkischen Behörden für Fälle, in denen Pässe unter den Trümmern verschüttet sind. Deutschland habe außerdem zwei Visa-Stellen in der Region eingerichtet. An ordentlichen Visa-Verfahren gehe aber kein Weg vorbei. "Wir sind darauf angewiesenen, trotz schneller Hilfe darauf zu achten, wer zu uns kommt", sagte die Ministerin.

Termine bei Ausländerbehörden schwer zu bekommen

Auf deutscher Seite braucht es für die Verpflichtungserklärung noch die Ausländerbehörden am Wohnort. Da habe er noch keinen Termin bekommen, berichtet Demir. Auch in Leverkusen konnte die Erklärung von Sevil Kurtal für ihre vier Verwandten nur am Empfang der Behörde abgegeben werden, zu sprechen war niemand. Zu viel Andrang. Jetzt zermürbe das Warten, erzählt Cataldegirmen. Großartige Hilfen wie für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, die unkompliziert einreisen dürfen und staatlich unterstützt werden, sollten auch Erdbebenopfern aus der Türkei und aus Syrien zugutekommen, findet die Pflegerin.

Beim NRW-Flüchtlingsministerium heißt es, das Land habe die Ausländerbehörden angewiesen, eine Verlängerung bestehender Touristenvisa großzügig zu prüfen. Das solle Bürgern aus den Erdbebengebieten helfen, die sich schon vor dem Beben mit einem Visum in NRW aufhielten - damit sie noch etwas länger bleiben können. Unter allen Bundesländern leben die meisten Menschen mit türkischen Wurzeln in Nordrhein-Westfalen.

Umfrage: Mehrheit für leichtere Visa-Vergabe nach Erdbeben

In Deutschland befürwortet derweil eine Mehrheit einer Umfrage zufolge eine befristete Aufnahme von Betroffenen der Katastrophe. Fast sieben von zehn Befragten (69 Prozent) sprachen sich im aktuellen Deutschlandtrend für das ARD-"Morgenmagazin" für dieses Vorgehen aus, wie der Sender mitteilte. 23 Prozent waren dagegen. Die vereinfachte Visa-Vergabe für einen begrenzten Zeitraum wird der Umfrage zufolge bei Anhängern fast aller Parteien positiv gesehen – am größten ist die Zustimmung bei den Grünen-Anhängern (88 Prozent).

Vereinte Nationen bitten um eine Milliarde Dollar Erdbebenhilfe

Vor über einer Woche hatte ein Beben der Stärke 7,7 die Südosttürkei erschüttert, Stunden später folgte ein zweites schweres Beben der Stärke 7,6. Die Zahl der bestätigten Toten lag am Donnerstag in der Türkei und Syrien bei mehr als 42 000, Zehntausende wurden verletzt, Tausende vermisst. Die Vereinten Nationen bitten ihre Mitgliedstaaten um eine Milliarde Dollar (940 Millionen Euro) Unterstützung. Dieses Geld solle "5,2 Millionen Menschen helfen und es Hilfsorganisationen ermöglichen, die lebenswichtige Unterstützung für staatlich geführte Hilfsmaßnahmen in einer Reihe von Bereichen, darunter Ernährungssicherheit, Schutz, Bildung, Wasser und Unterkünfte, schnell auszuweiten", sagte UN-Generalsekretär António Guterres am Dienstag in New York.

Mit Informationen von dpa

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