Samantha Power, die Chefin der US-Behörde für Entwicklungszusammenarbeit und Nothilfe (USAID), sieht vor allem in Syrien dringenden Hilfsbedarf für die Opfer des Erdbebens. "Trotz der Ankunft von 90 Hilfstransportern sinkt die Menge der humanitären Mittel in Lagerhäusern in Syrien auf ein kritisch niedriges Niveau", schrieb Power am Mittwoch bei Twitter. 350.000 Menschen seien jüngsten Schätzungen zufolge durch die Katastrophe vertrieben worden, schrieb die USAID-Chefin.
Die USA wollen für Syrien und die Türkei 85 Millionen Dollar (etwa 79 Millionen Euro) bereitstellen - unter anderem für Lebensmittel, Unterkünfte, Medizin und Versorgung von Familien. Unabhängig vom Erdbeben sind die USA der größte Geberstaat für Syrien mit humanitären Hilfen in Höhe von 15,7 Milliarden Dollar (14,6 Milliarden Euro) seit Beginn des Bürgerkriegs im Jahr 2011.
Besserer Zugang zum Nordwesten Syriens notwendig
Die Freigabe zweier weiterer Grenzübergänge in die Türkei zur Verbesserung der humanitären Hilfe im Nordwesten des Landes sei eine gute Nachricht, schrieb Power. "Aber eine Resolution des UN-Sicherheitsrats bleibt der beste Weg, um sicherzustellen, dass Hilfe auf verlässliche Weise weiterhin fließen kann, selbst nachdem die Kameras nicht mehr da sind." Es brauche besseren Zugang zum Nordwesten, wo der Hilfsbedarf durch die "entsetzliche Zerstörung" schon vor den Beben enorm gewesen sei. Die Menschen bräuchten dringend Lebensmittel, Arzneimittel und Zelte als Unterkünfte.
Weitere Grenzübergänge geöffnet
Syriens Präsident Baschar al-Assad hatte zwei weitere Grenzübergänge in die Türkei freigegeben. Bab al-Salam und Al-Ra'ee sollten für drei Monate geöffnet bleiben. Bislang war nur die Öffnung des Übergangs Bab al-Hawa von Damaskus autorisiert worden. Die Grenzübergänge liegen in Gebieten unter Kontrolle von Rebellen.
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Überlebende brauchen Unterkünfte, Toiletten, Trinkwasser
Die Überlebenden auch in der Türkei brauchen Unterkünfte, Toiletten, Trinkwasser, Essen. So will der Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) Menschen im türkischen Erdbebengebiet mit Trinkwasser versorgen. Die 16 Helfer planten, in der Provinz Hatay zwei Trinkwasseraufbereitungsanlagen aufzubauen, die etwa 1.000 Menschen pro Tag versorgen könnten, sagte Einsatzleiter Florian Hauke vor dem Abflug des Teams am Flughafen Köln/Bonn. "Sauberes Trinkwasser hilft, Infektionskrankheiten vorzubeugen."
Viele Kinder schwer traumatisiert
Besorgt sind Experten auch um die psychische Gesundheit vieler Kinder. Vom Erdbeben betroffene Kinder zeigten ganz unterschiedliche Symptome, berichtet ein Psychiater dem Sender TRT. Manche würden unaufhörlich weinen, andere könnten nicht schlafen, verweigerten das Essen und könnten nicht alleingelassen werden. Wieder andere begännen zu halluzinieren und hörten Stimmen. Experten raten dringend zu professioneller Hilfe, wenn Kinder in der Katastrophe ihre Eltern verloren haben.
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Suche nach Andenken im Schutt
Mit der zunehmend schwindenden Hoffnung, in den Erdbebengebieten noch Überlebende zu finden, wenden sich die Menschen inzwischen auch anderen Dingen zu: der Suche nach verlorenen Andenken und Erinnerungsstücken.
In der syrischen Provinz Latakia suchten etwa Dutzende nach persönlichem Besitz unter den Trümmern. "Wir suchen nach Erinnerungsstücken, die wir in 30 Sekunden verloren haben beim kompletten Einsturz des Hauses", sagte Ahmed Ragab. Er und weitere Anwohner standen vor dem Trümmerberg ihres vierstöckigen Wohnhauses und eilten voran, sobald ein Räumfahrzeug wieder einen Zementbrocken hob.
"Unsere Wohnung lag im zweiten Stock. Von den Möbeln, die wir über 30 Jahre angesammelt haben, möchte ich nichts. Ich will nur die Fotoalben", sagte Sainab Ali an der Seite ihres 15 Jahre alten Sohnes. "Seit ich Kind war, liebte ich es, Fotos zu machen. Ich habe Hunderte Fotos meiner Kinder, von mir als Kind, Andenken an die Schule und Universität, meine Hochzeitsfotos", sagte sie unter Tränen. "Ich hoffe, ich kann ein paar dieser Alben finden", sagte Ali. "Nach diesem Erdbeben haben wir unsere Vergangenheit verloren."
Türkei: Vorsichtige Annäherung an Nachbarländer
Unterdessen nähert sich die Türkei politisch ihren Nachbarn an. Der armenische Außenminister Ararat Mirsojan will am Mittwoch in die Türkei reisen. Es sei unter anderem ein Treffen mit seinem türkischen Kollegen Mevlüt Çavuşoğlu geplant, teilte ein Sprecher des armenischen Außenministeriums auf Facebook mit. Außerdem wolle Mirsojan armenische Rettungskräfte besuchen, die nach den schweren Erdbeben in der Türkei nach Verschütteten suchten.
Das Verhältnis zwischen den Nachbarstaaten ist schwer belastet. Rund 1,5 Millionen Armenier wurden Historikern zufolge im Ersten Weltkrieg Opfer systematischer Tötungen im Osmanischen Reich. Als dessen Rechtsnachfolgerin gibt die Türkei zwar Massaker an 300.000 bis 500.000 Menschen zu, weist die Einstufung als Völkermord aber zurück. Deutschland und andere westliche Staaten haben die Massaker an den Armeniern als Genozid verurteilt.
Zuvor gab es bereits eine vorsichtige Annäherung mit Griechenland: Der griechische Außenminister Nikos Dendias war am Sonntag in das Katastrophengebiet gereist und traf sich mit dem türkischen Kollegen Çavuşoğlu. Die beiden Politiker umarmten sich, wie das staatliche griechische Fernsehen zeigte. Griechenland habe sofort Hilfe geleistet. Dafür bedankte sich Çavuşoğlu. Die Staaten würden in einem Dialog versuchen, ihre Probleme zu lösen, fügte er hinzu.
Türkischer Aktienmarkt startete nach Pause
Am Mittwoch startete der türkische Aktienmarkt nach einer einwöchigen Handelspause mit Gewinnen. Der türkische Leitindex "Bist 30" stieg zum Handelsstart um fast sieben Prozent. Der Handel war vergangene Woche infolge starker Kursverluste nach dem Erdbeben im syrisch-türkischen Grenzgebiet ausgesetzt worden. Bereits nach dem schweren Erdbeben 1999 war die Börse des Landes für eine Woche geschlossen worden.
Am Dienstag hatte die Nachrichtenagentur Bloomberg unter Berufung auf mit der Sache vertraute Personen berichtet, dass ein türkischer Staatsfonds die Aktienbörse mit einem neuen Mechanismus notfalls stützen soll. Damit sollen größere Kursverluste als Folge der schweren Erdbeben vom 6. Februar vermieden werden, hieß es. Der Fonds zur Kursstabilisierung soll demnach mit Mitteln staatlicher Banken Aktien in Phasen erhöhter Kursausschläge kaufen.
Mehr als 40.000 Tote
Die schweren Erdbeben der Stärke 7,7 und 7,6 hatten am Montag vor einer Woche im türkisch-syrischen Grenzgebiet für schwere Zerstörungen gesorgt. Die Zahl der Toten ist mittlerweile auf mehr als 40.000 gestiegen. Es werden noch immer viele Menschen unter den Trümmern vermutet.
Mit Informationen von dpa
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