Vor den Augen seiner deutschen Ausbilder untersucht ein ukrainischer Soldat einen Kameraden nach einem bestimmten Schema. Die Bundeswehr bildet Ukrainer im Rahmen einer EU-Mission aus. Sie erhalten dafür Uniformen, tragen aber keine Hoheitsabzeichen.
Bildrechte: Kilian Neuwert, BR

Vor den Augen seiner deutschen Ausbilder untersucht ein ukrainischer Soldat einen Kameraden nach einem bestimmten Schema.

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Verwundete "abdichten": Ausbildung für ukrainische Soldaten

Im Rahmen einer EU-Mission bildet die Bundeswehr ukrainische Soldaten aus - nicht zuletzt in der Versorgung Verwundeter. Dabei lernen auch die Ausbilder viel. Ein BR-Team hat einen seltenen Einblick bekommen.

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"Granate", schreit ein deutscher Ausbilder. Ukrainische Soldaten wiederholen den Ruf. Einem Echo gleich, tönt es immer wieder "Granate". Mit Gewehren im Anschlag knien die Männer auf einer Wiese. Zwei ihrer Kameraden sind kurz zuvor in einen Schützengraben vorgedrungen. Dort ist die Granate explodiert, die Männer liegen am Boden. Ein deutscher Ausbilder markiert gedachte Verletzungen mit Klebeband. Die anderen ukrainischen Soldaten nähern sich vorsichtig.

Die Szene wirkt künstlich, der Schützengraben ist nur nachempfunden mit Metallteilen. Die Explosion: Simuliert. Doch hier geht es auch nicht um den Gebrauch von Waffen. Dem einen Verwundeten binden die Ukrainer das Bein ab, dann schleifen sie ihn heraus aus dem engen Graben auf die Wiese. Ihre Ausbilder beobachten sie dabei. Als die Männer versorgt sind, so gut es eben geht, holen sie die Gruppe zusammen.

"Abdichten": Erste Hilfe unter Frontbedingungen

Ein deutscher Hauptfeldwebel macht Verbesserungsvorschläge. Die werden übersetzt. Die ukrainischen Soldaten blicken aufmerksam, nicken immer wieder. Schweißperlen stehen ihnen auf der Stirn, die Sonne brennt. Die Schutzwesten und Helme sind schwer. Kurze Trinkpause, dann die nächste Übung. Verwundete "abdichten", sagen sie hier dazu. Sprich: Menschen vor dem Verbluten bewahren, zuerst behandeln, was schnell tödlich ist. "Dafür fangen wir bei den massiven Blutungen an, kontrollieren dann die Atemwege, dann den Brustkorb. Treffer dort können wir – einfach gesagt – zukleben", erläutert ein Sanitätssoldat mit Dienstgrad Hauptbootsmann.

Strenge Sicherheits- und Geheimhaltungsvorschriften

"Heggo" sollen wir ihn nennen, sagt er. Die richtigen Namen der deutschen Soldaten: Wir dürfen sie nur in Ausnahmefällen erfahren. Für den Besuch gelten strengen Auflagen. Den Ort bittet die Bundeswehr zu verschweigen. Die Handys: Bitte im Auto lassen. Wenn die Kamera läuft, tragen Ausbilder und Teilnehmer Sonnenbrillen, die Feldmützen ziehen sie tief ins Gesicht. Olivgrüne Schals bedecken Mund, Nase und Ohren. Grund ist die Sorge, Bilder könnten im Internet mit KI-Tools gefunden, bearbeitet und missbraucht werden, um Menschen zu bedrohen.

Russlands Arme reichen weit in den Westen hinein. Immer wieder werden auch Drohnen über deutschen Kasernen gesichtet. Es habe Fälle gegeben, in denen Familien von ukrainischen Teilnehmern kontaktiert worden sind. Die Angehörigen der Teilnehmer und Ausbilder gelte es zu schützen, sagt Oberstleutnant Roland Bösker. Er ist einer der wenigen, dessen Namen wir nennen dürfen. Bösker ist Presseoffizier. Zuständig für die EU-Mission, in deren Rahmen die Bundeswehr die ukrainischen Soldaten ausbildet. Seite an Seite mit den Armeen anderer EU-Staaten. Bis Jahresende sollen 60.000 Ukrainer Lehrgänge durchlaufen haben. Die Inhalte: Sie reichen von der Bedienung gelieferter Panzer bis zur Versorgung Verwundeter.

Was die Ukrainer lernen, kann Leben retten

Für Hauptfeldwebel Jessy ist es der 15. Lehrgang. Sie koordiniert ihn und verschafft sich einen Überblick. Vor ihr auf der Wiese ziehen Ukrainer ihren Kameraden die T-Shirts hoch, tasten den Rücken ab. Wickeln andere in Rettungsdecken.

Die Männer lernen viel, sagt Jessy. Besonders in Erinnerung ist ihr die Schilderung eines Ukrainers. Dessen Freund sei angeschossen worden. Nach der Erstversorgung des Mannes, hätte die Einheit weitergekämpft. Doch eine Stunde später habe der Soldat tot im Graben gelegen. Ein zweiter Treffer blieb unentdeckt. Davon, so Jessy, habe ihr der Ukrainer berichtet, als er ein Untersuchungsschema gelernt habe. "Er war sehr betroffen. Mit dem Schema hätte er dem Kameraden helfen können, wenn er vor diesem Ereignis hier auf diesem Kurs gewesen wäre."

Übersetzer sind Ohrenzeugen

Besonders nah dran sind die Sprachmittler. Sie übersetzen und bekommen deshalb auch mit, über was sich die Teilnehmer in den Pausen unterhalten. Es seien Geschichten aus Schützengräben, von ihren Wohnungen, die zerstört sind, von ihren Bekannten, die gestorben sind, berichtet ein Stabsunteroffizier, der ins Russische übersetzt. Ukrainisch-sprechende deutsche Soldaten gibt es nur wenige. Wir sollen ihn mit "Fritz" ansprechen, wünscht er sich. Er hat sich freiwillig gemeldet für den Auftrag. Er wolle helfen, fühle sich aufgrund seiner "eigenen Wurzeln auch in der Schuld".

Auch die Ausbilder lernen dazu

Doch bei dem Lehrgang lernen nicht nur die Teilnehmer dazu. Auch die erfahrenen deutschen Ausbilder nehmen vieles mit, sagt Hauptfeldwebel Jessy. Sie hole etwa Informationen über Verletzungsmuster ein, sagt Jessy, die selbst in Afghanistan im Einsatz war.

Das Geschehen in der Ukraine wird zudem von der Bundeswehr sehr genau beobachtet, etwa von Oberstarzt Kai Schmidt. Er leitet das Lagezentrum des Sanitätsdienstes.

Lebensrettung im Krieg: eine Frage von Raum und Zeit

Krankenhäuser und Rettungskräfte werden regelmäßig Ziel russischer Angriffe. Das Rote Kreuz: als Schutzzeichen scheint es bedeutungslos zu sein. Zudem erschwert der massive Einsatz von Drohnen und Artillerie die Versorgung Verwundeter, sagt Schmidt. Die Distanzen, über die Verwundete deshalb transportiert werden müssten, seien "völlig andere als wir das bisher kannten".

Auch die "Zeitlinien" seien andere: "Wenn sie morgens in der Früh im Schützengraben verwundet werden, haben sie den ganzen Tag da vorne auszuhalten, bis sie dann im Schutze der Dämmerung abtransportiert werden oder sich selbst transportieren müssen", sagt der Oberstarzt. Genau deshalb sollen die ukrainischen Soldaten unter anderem lernen, Verwundete vor dem Verbluten zu bewahren – das "Abdichten". Der Transport muss, wenn er denn erfolgt, schnell von statten gehen. Und: Es müssen viele Verwundete transportiert werden. Die NATO-Truppen müssen daraus ihre Lehren ziehen, so Schmidt.

Seelische Belastung für Ausbilder und Auszubildende

Mitunter ist der Job belastend. Denn die Ausbilder wissen: die Teilnehmer der Kurse kommen häufig von der Front und kehren dorthin zurück. Was die Ukrainer während der Ausbildung in Deutschland empfinden, erfahren wir nicht, sie möchten sich nicht äußern. Doch klar ist: sie sind keine Sanitäter, sondern wurden hineingeworfen in diesen Krieg, egal ob sie zuvor Bauarbeiter oder Ingenieure waren. Bald müssen sie zurück in die Heimat, wo sie mit hoher Wahrscheinlichkeit brauchen werden, was sie hier gelernt haben.

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