Es sei ein gefährliches, doppeltes Spiel, das Viktor Orbán da treibe, sagen Kritiker des ungarischen Ministerpräsidenten. Damit werde die Einheit der Europäischen Union systematisch geschwächt, so der Vorwurf. Als Beispiel wird unter anderem die von Orbán Ende Oktober 2022 in Ungarn organisierte Umfrage über EU-Strafmaßnahmen gegenüber Russland genannt.
Die Abstimmung wurde im Rahmen einer sogenannten "Nationalen Konsultation" mit Hilfe eines Fragebogens durchgeführt, der per Post oder online beantwortet werden sollte. Parallel dazu tauchten vielerorts in Ungarn Plakate auf mit dem Slogan "Die Brüsseler Sanktionen ruinieren uns!" Kein Zufall, sagen Orbáns Gegner. Vielmehr Taktik, um das Umfrageergebnis entsprechend zu beeinflussen. Eine Befragung, die für den EU-Abgeordneten Daniel Freund vom Bündnis 90/ Die Grünen gleichzeitig ein Beleg dafür ist, wie Orbán die EU zu spalten versucht.
"Orbán macht ein Pseudo-Referendum in Ungarn, wo er im Grunde die Ungarn fragt: Wollt ihr teures Gas oder wollt ihr billiges Gas? Da weiß doch jeder, was die Antwort ist." Daniel Freund, Europa-Abgeordneter, Bündnis 90/ Die Grünen
Einschränkung der Pressefreiheit
Dass der ungarische Ministerpräsident und seine Fidesz-Regierung damit durchkommen, sagen Orbáns Gegner, sei nicht verwunderlich. Die Grundlage dafür habe er bereits vor langer Zeit gelegt. Gemeint ist damit eine systematische Einschränkung der Pressefreiheit im Land. Die Folge: Kritischen und Investigativen Journalismus – so heißt es – würde eigentlich nur noch eine Handvoll Reporter und Reporterinnen betreiben, unter anderem von der Medienplattform Direkt36.
"Für die Fidesz ist Journalismus Teil der Politik. Redaktionen und Verlage, die mit irgendwelchen finanziellen Problemen oder Schwierigkeiten zu kämpfen haben, werden von regierungsnahen Personen aufgekauft. Und danach werden diese Medien praktisch zu einem Instrument in der Propagandamaschinerie der Regierung gemacht." Andras Szabo, Journalist Direkt36
Journalisten wie Andras Szabo von der Medienplattform Direkt36 beobachten zudem mit großer Sorge, wie russische Propaganda-Erzählungen in Ungarn vor allem zu Beginn des russischen Angriffskrieges verbreitet wurden. In regierungsnahen Medien klang das dann so:
"Es ist nicht die Zivilbevölkerung in der Ukraine, die den Russen im Weg steht, es sind die vielen amerikanischen Waffen."
"Wir können sicher sein, dass, wenn wir die russische Kultur aus der ukrainischen Kultur herausnehmen, dass das, was übrig bleibt, erbärmlich ist und klein."
Ungarns wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland
Was ist der Grund für diesen russlandfreundlichen Kurs der Orbán-Medien und der gesamten Regierung? Die Antwort sei simpel, meinen Kritiker des ungarischen Ministerpräsidenten. In erster Linie gehe es um lukrative Geschäfte und somit um viel Geld. Orbán und Putin hätten sich in den vergangenen Jahren regelmäßig getroffen, vor allem um über Energie-Deals zu sprechen. Ende Juli 2022, also rund fünf Monate nach Kriegsausbruch reiste Ungarns Außenminister Szijjártó nach Moskau um mit Russlands Außenminister Lawrow über zusätzliche Gaslieferungen zu verhandeln. Einen Monat später schließlich gab die ungarische Regierung den Startschuss für den Bau von zwei neuen Atomreaktoren durch Russland.
Trotz des russischen Angriffskriegs kann oder will Orbán offenbar seine guten Beziehungen zu Putin keinesfalls beschädigen, sagen Kritiker. Und er nutze den Krieg sogar für seine politischen Ziele aus - einen völkischen Nationalismus. Was das bedeutet, wird unter anderem im ungarisch-ukrainischen Grenzgebiet deutlich. Dort, wo der Fluss Tisza die Grenze zu Slowakei und zur Region Transkarpatien in der Ukraine bildet. Zum Beispiel in der kleinen Grenzstadt Záhony.
Ungarische Minderheit in Transkarpatien
Viele der ukrainischen Flüchtlinge, die in Záhony ankommen, stammen aus dem angrenzenden Süden der Ukraine, aus Transkarpatien. Die rund 1,3 Millionen Bewohner der Region gehören verschiedenen Völkern an. Etwa 150.000 von ihnen werden zur ungarischen Minderheit gezählt. Viele der Betroffenen sind Viktor Orbán dankbar. Seiner Politik, so der Tenor, sei es zu verdanken, dass die Ungarn aus Transkarpatien noch nicht vollständig verschwunden wären. Nicht zuletzt auch deshalb, weil ungarnstämmige Bewohner in Transkarpatien in den letzten Jahren von der Orbán Regierung einen ungarischen Pass bekommen hätten. Was nach Ansicht von Orbáns Kritikern weniger mit Altruismus, sondern vielmehr mit einem politischen Kalkül des ungarischen Ministerpräsidenten zu erklären sei.
Ohne die Stimmen der Auslandsungarn, heißt es, wäre Viktor Orbáns Wahlerfolg im April 2022 undenkbar gewesen. Ein Wahlerfolg, der auch darauf zurückzuführen sei, weil Orbán gezielt nationalistische Stimmungen schüre. Wozu das führen kann, ließ sich am 4. Juni 2022, dem Jahrestag, als das ungarische Großreich vor über 100 Jahren zerschlagen wurde, in der Hauptstadt besonders gut beobachten. Und zwar direkt am Eingang zur ukrainischen Botschaft.
Großmachtträume rechtsextremer Ungarn
Etwa 400 Rechtsextremisten waren vor die diplomatische Vertretung aufmarschiert. Sie trugen offen Zeichen der Solidarität mit Russland zur Schau, wie das russische "Z", Symbol für die Unterstützung des russischen Angriffskrieges in der Ukraine.
Viele rechtsextreme Ungarn sehen im russischen Krieg gegen die Ukraine eine Chance, Ungarn zurück zu alter Größe zu führen. Sie wünschen sich die alten Grenzen von 1920 zurück, als das Königreich Ungarn Territorien der heutigen Slowakei, Rumäniens und Ukraine sowie Teile Ex-Jugoslawiens umfasste. Der Tenor ihrer Großmachtphantasien in Bezug auf die Ukraine lautet:
"Falls Russland den Krieg gewinnt, was bleibt dann von der Ukraine? Die Geschichte zeigt, dass es dann Volksabstimmungen gibt, dass es Grenzveränderungen geben kann. Und dann dürfen wir nicht stillhalten."
Eine Wiedereingliederung von Teilen der Ukraine in das ungarische Staatsgebiet? Zwar schließt die Fidesz-Regierung eine Annexion kategorisch aus. Dennoch scheint Orbán gezielt mit nationalistischen Stimmungen zu spielen, wie Mitte Mai 2022 nach der gewonnenen Parlamentswahl.
"Ich sehe die spirituellen und physischen Spuren des wiederbelebten nationalen Zusammenhalts im gesamten Karpatenbecken. Das ist nicht nur gut für die im Ausland lebenden Ungarn, sondern stärkt auch das allgemeine Ungarntum und stärkt das Vaterland. Die Ungarn jenseits der Grenze können auf uns zählen, und wir werden unsere Vereinigungsarbeit unermüdlich fortsetzen." Viktor Orbán
Die Rede von "Ungarntum" und "Vereinigungen-Arbeit" sei keine leere Rhetorik und sei sehr ernst zu nehmen, meint Daniel Freund. Der Grünen-EU-Politiker hält derartige Aussagen für extrem gefährlich. Zumal er glaubt, dass das nicht nur von extrem Rechten Kräften propagiert wird, sondern auch in der Fidesz-Regierung verankert ist. Vor diesem Hintergrund verweist Daniel Freund darauf, dass im Büro des Pressesprechers von Viktor Orbán eine riesige Karte von Groß-Ungarn an der Wand hängen würde. Für ihn ein klarer Hinweis, dass die Fidesz mit dem Gedanken spiele, Ungarn zur alten Größe zurückzuführen.
Keine EU Milliardenhilfen für Ungarn?
Diese Form der Stimmungsmache sei das eine, ergänzt der Politökonom und ehemalige ungarische Bildungsminister Balint Magyar. Dahinter aber verberge sich auch eine klare politische Strategie.
"Orbán benutzt die ungarischen Minderheiten, um damit Konflikte in deren Heimatland zu schüren. Sei es in Rumänien, der Ukraine oder anderen Staaten: Er behauptet, diese Minderheiten zu verteidigen und finanziert sie, um sie dann für seine politischen Ziele einzusetzen." Balint Magyar, ungarischer Bildungsminister
Die EU-Kommission und Europas Regierungschefs hätten den ungarischen Autokraten viel zu lange gewähren lassen, kritisiert auch die ungarische Oppositionspolitikerin und EU-Parlamentarierin Klara Dobrev. Und nicht nur das. Allein zwischen 2014 und 2021 seien mehr als 27 Milliarden Euro EU-Fördergelder nach Ungarn geflossen. Geld, ohne das Orbán niemals so mächtig geworden wäre. Geld mit dem Orbán, so die EU-Parlamentarierin, Medien aufkaufen konnte und damit jene, die in Ungarn einen echten Wandel anstrebten mundtot gemacht habe.
Damit könnte nun Schluss sein. Zumal die EU-Kommission dabei ist, Orbán im Rahmen des sogenannten Rechtsstaatsmechanismus, Milliardenhilfen zu streichen. Ein erster Schritt in diese Richtung ist jedenfalls nunmehr getan. Die Europäische Kommission hat den Mitgliedstaaten das Einfrieren von mehr als 13 Milliarden Euro an EU-Mitteln für Ungarn empfohlen. Als Grund werden Ungarns mangelnde Reformen genannt, zur Verbesserung der Unabhängigkeit der Justiz und zur Bekämpfung von Korruption. Die Mitgliedstaaten haben nun bis zum 19. Dezember 2022 Zeit, über die Empfehlung der EU-Kommission zu entscheiden.
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