Dirk Neubauer bezeichnet sich selbst "als gescheitert". Er war bis September Landrat in Mittelsachsen. Zwei Jahre lang versuchte er, in seinem Wahlkreis Reformen anzustoßen und Bürger mehr zu beteiligen. Als parteiloser Amtsinhaber eckte er an. Beleidigungen, Drohungen von Rechtsextremisten und mangelnde Unterstützung bewogen ihn dazu, aufzugeben. Im BR-Interview erzählt er, wie sich im Supermarkt ein Unbekannter vor ihm aufbaute, und drohte: "Dich kriegen wir auch noch."
Drohungen sorgen für angsterfülltes Klima
Neubauer machte sich immer wieder gegen die AfD stark, die zuletzt bei der Landtagswahl in Sachsen 30,6 Prozent der Stimmen holte. Das war einer der Gründe für die ständigen Anfeindungen. Nach Briefen, E-Mails und "Heimsuchungen zuhause" litt der 53-Jährige unter Panikattacken und gab auf.
Neubauer ist nicht der einzige Mandatsträger, der sich wegen Drohungen aus der Politik zurückzog. Der ehemalige Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer, Marco Wanderwitz, die Nürnberger Grünen-Bundestagsabgeordnete Tessa Ganserer oder die Vizepräsidentin des Bundestags Yvonne Magwas sind andere prominente Beispiele.
Im Jahr 2023 steigende Zahl von Straftaten
Politiker klagen über Angriffe, Anfeindungen und Drohungen. Abgetrennte Schweinsköpfe vor Haustüren, übelste Beschimpfungen, tätliche Angriffe beim Plakate-Kleben: Im Jahr 2023 wurden laut Bundeskriminalamt 5.400 Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger verübt. Fast ein Drittel mehr als im Jahr davor. Darunter aufgeführt sind nicht nur Politiker, sondern auch Staatsbedienstete. Für 2024 liegen noch keine Zahlen vor.
Jedoch stellte Ende 2024 die Fraktion Die Linke eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung. Zum Stichtag 30. November wurden acht Amts- und Mandatsträger Opfer von Gewaltdelikten. Einer davon war der SPD-Europaabgeordnete Matthias Ecke. Er wurde beim Plakatieren in Dresden vergangenes Jahr zusammengeschlagen und musste ins Krankenhaus. Auf eine Kleine Anfrage der AfD antwortete das Innenministerium, die meisten Gewalttaten richteten sich im ersten Halbjahr 2024 gegen Vertreter der AfD. Die meisten Straftaten insgesamt richteten sich gegen Repräsentanten von Grünen und SPD.
Gewalt beginnt häufig im Netz
Wer Mandatsträger schützen möchte, so Josephine Ballon von der Menschenrechtsorganisation HateAid, müsse Ermittlungsbehörden besser ausstatten, Mandatsträger vor Ort tatkräftiger unterstützen – und Plattformen, auf denen Hasskommentare und Falschinformationen zirkulieren, strenger regulieren. "Digitale Gewalt gegen Menschen in der Politik hat konkrete Auswirkungen auf uns alle als Gesellschaft", sagt Ballon. Politische Debatten fänden heute vorrangig in den sozialen Netzwerken statt und führten ständige Hassbotschaften dazu, dass ein angsterfülltes Klima entstehe. "Es sorgt dafür, dass Menschen vor politischem Engagement zurückschrecken."
HateAid und Forscher der TU München erarbeiteten eine Studie (externer Link) über digitale Gewalt gegen politisch Engagierte. Demnach berichteten mehr als die Hälfte der über 1.000 Befragten von Anfeindungen im Netz. Zehn Prozent der befragten Männer denken deshalb darüber nach, aufzuhören. Bei den Frauen, die noch häufiger von digitaler Gewalt betroffen sind, ist es sogar fast jede Vierte.
Appell: Mehr Schutz durch Staat und Zivilgesellschaft
Der ehemalige Landrat Dirk Neubauer sagt, dass sich allein nach seinem Rücktritt "Tausende" Mandatsträger bei ihm gemeldet hätten. Der Tenor: Endlich sagt’s mal einer. "Aber ich würde trotzdem nach wie vor jeden jungen Menschen nahezu darum bitten, diesen Weg zu gehen", appelliert Neubauer. Die Jahre, in denen er sich politisch engagierte, seien die lehrreichsten seines Lebens gewesen: "Wenn ich etwas will, muss ich dafür sorgen, dass es stattfindet. Macht es, geht, kämpft euch durch!"
Der Schutz von Mandatsträgern, sagt Neubauer, könne aber nicht allein von der Staatsgewalt abhängen. Auch die Zivilgesellschaft solle ihre Vertreterinnen und Vertreter unterstützen. Selbst wenn sie nicht immer der gleichen Meinung sind.
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