Spätestens seit den Enthüllungen von Julian Assange, Edward Snowden und Chelsea Manning dürfte fast jeder den Begriff "Whistleblower" kennen. Um Menschen, die Missstände in Unternehmen und Behörden aufdecken, besser zu schützen, tritt am Sonntag das "Hinweisgeberschutzgesetz" in Kraft.
Es ist längst überfällig, denn Deutschland hätte eine entsprechende EU-Richtlinie schon im Dezember 2021 in nationales Recht umsetzen müssen. Im Februar verklagte die EU-Kommission Deutschland deshalb vor dem Europäischen Gerichtshof.
Betroffen sind vom sogenannten "Whistleblower-Gesetz" Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeitenden sowie Behörden. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts gab es davon im Jahr 2021 rund 90.000 in der Bundesrepublik.
Was sieht das Whistleblower-Gesetz vor?
Hinweisgeber, die auf Fehlverhalten in Behörden und Unternehmen aufmerksam machen, sollen durch das Gesetz vor Entlassung und Schikanen geschützt werden. Dafür müssen Unternehmen Anlaufstellen schaffen, die solche Meldungen vertraulich entgegennehmen und bearbeiten.
Wer gegen das Gesetz verstößt, dem droht ein Bußgeld von bis zu 50.000 Euro. Zusätzlich wird beim Bundesamt für Justiz eine externe Meldestelle geschaffen. Whistleblower können entscheiden, ob sie Verstöße intern oder extern melden.
Gab es so etwas nicht schon?
Laut Gesetzentwurf der Bundesregierung setzen Großunternehmen bereits mehrheitlich auf Meldestellen. Der Energieversorger Eon hat nach eigenen Angaben seit 2016 ein zentrales Hinweisgebersystem. Sowohl Mitarbeiter als auch Dritte könnten sich schriftlich oder per Sprachnachricht an eine Hinweisgeber-Hotline wenden.
Auch für VW, BMW und Mercedes-Benz bringe das Gesetz keine wesentliche Veränderung mit sich, teilten die Autohersteller mit. "Wir schärfen lediglich die Prozesse der Kommunikation mit der Personalabteilung im Hinblick auf potenzielle Hinweisgeberbenachteiligung nach", hieß es bei BMW.
Wie viele Meldestellen fehlen und was wird das kosten?
Während in vielen Großunternehmen Meldestellen schon gang und gäbe sind, müssen kleine und mittlere Firmen noch etwa 10.000 Meldestellen einrichten, wie es im Gesetzentwurf der Bundesregierung heißt. Bis zu vier Unternehmen könnten sich demnach eine Meldestelle teilen.
Die Bundesregierung geht davon aus, dass die einmalige Einrichtung der internen Meldestellen die deutsche Wirtschaft rund 190 Millionen Euro kosten wird. Für mittlere Unternehmen seien das im Schnitt etwa 12.500 Euro pro Meldestelle, für große Unternehmen bis zu doppelt so viel. Schätzungen der Bundesregierung zufolge sollen sich die jährlichen Personal- und Sachkosten auf rund 5.800 Euro pro Meldestelle belaufen.
Warum gab es Streit um das Gesetz?
Ein erster Entwurf der Bundesregierung war vom Bundesrat gestoppt worden. Die unionsregierten Länder befürchteten eine übermäßige finanzielle Belastung von kleinen und mittleren Unternehmen.
Der nun erreichte Kompromiss sieht vor, dass die geplanten Meldestellen für Hinweisgeber nicht dazu verpflichtet sind, auch anonyme Meldungen möglich zu machen. Bei Bußgeldern wurde die Obergrenze von 100.000 Euro auf 50.000 Euro heruntergesetzt.
Kann der Kompromiss wirklich helfen, Missstände am Arbeitsplatz aufzudecken?
Die Richtlinie sei ein Meilenstein für einen besseren Schutz von Whistleblowern, sagte der Jurist David Werdermann. Der Verfahrenskoordinator der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) bemängelte aber auch Lücken. Durch den Kompromiss sei das Gesetz an entscheidender Stelle verwässert wurden: die Anonymität. Die geplanten Meldestellen für Hinweisgeber sind nicht dazu verpflichtet sind, auch anonyme Meldungen zu ermöglichen.
"Zwar verbietet das Gesetz Repressalien gegen Whistleblower, gänzlich verhindern wird es sie leider nicht", sagte die Vorsitzende des Whistleblower-Netzwerks, Annegret Falter. Ein Unterstützungsfonds, unter anderem zur Finanzierung rechtlicher und psychologischer Beratung, sei nicht vorgesehen. Der Entschädigungsanspruch bei immateriellen Schäden, zum Beispiel infolge von Mobbing, sei dem Kompromiss zum Opfer gefallen.
Was bedeutet das Gesetz für Arbeitnehmer?
Das Hinweisgeberschutzgesetz könne zu einer Kultur in Unternehmen beitragen, in der Whistleblower nicht mehr als Querulanten gelten, sagte Anja Piel, Vorstandsmitglied beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). Das sei gut so: "Wer den Mut hat, Missstände zu melden, sollte nicht Repressalien und Nachteile befürchten müssen, sondern verdient Dank und Anerkennung."
Was bedeutet das Gesetz für Arbeitgeber?
Besonders für kleine und mittlere Unternehmen, die ein neues Meldeverfahren einführen müssen, entstehen hohe Kosten, wie die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) mitteilte. Allerdings könne kein Unternehmer etwas dagegen haben, Fehlentwicklungen im eigenen Betrieb frühzeitig aufzudecken und zu korrigieren. Dass beim Kompromiss auf die verpflichtende Anonymität der Meldeverfahren verzichtet wurde, halte den bürokratischen Aufwand gering und entlaste kleine Unternehmen, so die BDA.
Läutet das Gesetz einen Wandel ein?
Einige Unternehmen wollen nun eine sogenannte Speak-up-Kultur fördern, um ihre Mitarbeiter darin zu bestärken, Verstöße zu melden. Die Deutsche Post teilte mit, dass Beschäftigten klar kommuniziert werden solle, dass "ihre abgegebenen Hinweise mit größtmöglicher Vertraulichkeit behandelt und sie bei Abgabe eines Hinweises in gutem Glauben vor Vergeltungsmaßnahmen geschützt werden". Der Technologiekonzern Bosch mache im Arbeitsalltag auf das Thema aufmerksam: "durch Aktionen der Compliance Offices vor Ort und digital, interaktive Angebote wie beispielsweise einen Compliance-Selbsttest, Compliance-Dialoge in den Abteilungen und weltweite Sensibilisierungs-Kampagnen."
Im Audio: "Warum werden Whistleblower in Deutschland nicht besser geschützt?" BR-MedienMagazin vom Juni 2022
Mit Informationen von dpa.
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