In den Reihen der Unterstützer-Staaten der Ukraine – der Nato, der EU, aber auch anderer Länder wie Japan und Südkorea – gebe es einen gemeinsamen Grundkonsens: dem angegriffenen Land zur Seite zu stehen, sagt Thomas Kleine-Brockhoff, Leiter der renommierten unabhängigen US-Denkfabrik "German Marshall Funds", die sich den transatlantischen Beziehungen widmet.
Allerdings: "Wir können uns einigen auf die Abwehr dieses imperialen Ansinnens, aber über die Frage der Kriegsziele wird nicht richtig geredet." Und zwar deshalb nicht, weil "wir voneinander vermuten, dass wir sehr unterschiedlich ticken", so Kleine-Brockhoff. Das sei durchaus verständlich, denn in den westlichen Ländern würden die Ziele jeweils unterschiedlich beschrieben.
Sicherheitsinteressen oder Solidarität?
So hätten etwa die baltischen Staaten, Polen, Tschechien, Slowakei und Rumänien den Eindruck, dass andere Länder in Westeuropa – auch die Bundesrepublik – ihr Gefühl von "all in", hier geht es um alles, nicht teilten. Dieser Unterschied bei der Beurteilung, ob die Ukraine aus fundamentalen nationalen Interessen dauerhaft unterstützt werden müsse oder eher aus Gründen der Solidarität, werde ein wenig unter den Teppich gekehrt, so Kleine-Brockhoff.
Der Grund: "Weil wir noch nicht in großer Ernsthaftigkeit über die Frage eines Settlements, eines Friedensschlusses reden, weil Wladimir Putin diese Öffnung dazu noch nicht gibt, weil er glaubt, die Dinge auf dem Schlachtfeld entscheiden zu wollen."
Offen darüber sprechen, was man erreichen will
Hierzulande, so beobachtet Michael Roth, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, komme die Debatte über die strategischen Ziele zu kurz, auch über die Gründe der deutschen Unterstützung der Ukraine. Der SPD-Politiker neigt eher dazu, sehr offen auch darüber zu sprechen, was man eigentlich erreichen wolle: "Nur so kann man auch den Bürgerinnen und Bürgern unseres eigenen Landes erklären, warum es eben nicht nur ein Gebot der Nächstenliebe ist, der Ukraine beizustehen, auch militärisch beizustehen, sondern dass es im gebotenen nationalen und europäischen Interesse ist, diesem Land zu helfen."
Denn wenn die Ukraine als souveränes, freies, demokratisches Land untergehe, dann drohten weitere militärische Konflikte im Osten Europas, "und wir wissen nicht, wo die haltmachen", so Roth.
Zermürbungskrieg gegen die Ukraine
Woran zu erkennen wäre, dass Putin zu ernsthaften Verhandlungen bereit sei? Unter anderem daran, wenn der Kreml-Chef seinen Angriffskrieg nicht mehr mit dem propagandistischen "Mäntelchen" zu begründen versuche, die Ukraine "denazifizieren" zu wollen, so der SPD-Außenpolitiker. Solange das von Putin und seinen Apologeten wiederholt werde, so Roth, "habe ich überhaupt nicht den Eindruck, dass Russland ernsthaft interessiert ist."
Aus seiner Sicht gibt es nur die eine Option: Auch für Putin müsse klar sein, dass ein Zermürbungskrieg oder eine brutalstmögliche Frühjahrs- oder Sommeroffensive in diesem Jahr nicht zum Zusammenbruch der Ukraine führen werde." Weil die Ukraine auch immer wieder durch die deutsche Unterstützung, durch die internationale europäische Unterstützung in die Lage versetzt werde, sich nicht nur zu verteidigen, "sondern auch von Russland erobertes Gebiet wieder zu befreien".
Wann sind die Kosten für Putin zu hoch?
Ist in absehbarer Zeit damit zu rechnen, dass im Kreml eine realpolitische, nüchterne Abwägung vorgenommen wird? Dass die Frage gestellt wird, ab wann die Kosten so hoch sind, dass es nach der Entfesselung des schlimmsten Angriffskriegs in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs zu einem Innehalten kommt? Die fortgesetzte Mobilisierung Moskaus immer neuer Soldaten, die buchstäblich ohne Rücksicht auf eigene Verluste gegen die ukrainischen Truppen eingesetzt werden, spricht eine andere Sprache: Putin verdoppelt seine Kriegsanstrengungen.
Der amerikanische Außenpolitik-Experte Thomas Friedman bringt es in der "New York Times" auf den Nenner: Putin sage US-Präsident Biden durch die Verdopplung des Einsatzes an Truppen und Kriegsmaterial: 'Ich kann es mir nicht leisten zu verlieren. Und ich werde jeden Preis und jede Last tragen, um sicherzustellen, dass ich den Teil der Ukraine bekomme, der meine Verluste rechtfertigt. Wie steht es mit Dir, Joe? Und deinen europäischen Freunden? Seid ihr bereit, jeden Preis zu bezahlen und jede Last zu tragen, um Eure "liberale Ordnung" aufrechtzuerhalten?'
Putin bisher "zu keinem Zeitpunkt" zu Verhandlungen bereit
Die Russland-Expertin Sabine Fischer von der "Stiftung für Wissenschaft und Politik" ist der Auffassung, dass es darum gehen müsse, "die Kosten für Russland soweit zu erhöhen, bis wir an einen Punkt kommen, wo die russische Seite wirklich zu Verhandlungen bereit ist. Was sie bislang nie war. Zu keinem Zeitpunkt". Und das würde bedeuten, dass tatsächlich die russischen Streitkräfte sehr weit zurückgedrängt werden müssten. Zu einem Punkt, wo die Ukraine wirklich aus einer gestärkten Position heraus in Verhandlungen mit Russland auf Augenhöhe gehen könnte.
Im März vergangenen Jahres saßen in Istanbul ukrainische und russische Delegationsmitglieder an einem Tisch – nur wenige Wochen nach dem russischen Überfall. Russland habe, so Fischer, damals nicht ernsthaft verhandelt. Von Seiten der Ukraine, die unter massivem militärischen Druck stand, seien die Gespräche hingegen mit sehr großer Ernsthaftigkeit geführt worden.
Reparationen werden große Rolle spielen
Die Ukraine habe damals in Istanbul einen sehr weitreichenden Kompromissvorschlag gemacht, so die Russland-Expertin. Momentan sehe sie überhaupt nicht, wie die Ukraine zu diesem Kompromissvorschlag zurückkehren könnte.
Man müsse sich eben auch immer wieder vor Augen führen, was in der Zwischenzeit passiert sei: "Die Kriegsverbrechen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Deportationen, Mariupol, die zusätzlichen Annexionen, der Luftkrieg usw., die Reparationsfrage." Das habe in diesen Verhandlungen ja noch keine Rolle gespielt. Mittlerweile habe Russland die Ukraine so weitgehend zerstört, dass in jeder Waffenstillstands- und Friedensverhandlung Reparationen eine große Rolle spielen müssten.
Wiederaufbau nur unter Sicherheitsgarantien
Mit seinem verheerenden Zerstörungswerk in der Ukraine verfolgt Putin auch das langfristige Ziel, die künftige Nachkriegsordnung zu bestimmen. Jede Form von Wiederaufbau, von neuen Investitionen in Infrastruktur, in Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, in Unternehmen und Landwirtschaft, setzt grundlegende Sicherheitsgarantien für die Ukraine voraus. Garantien, die das Land gegen einen erneuten Angriffskrieg Russlands schützen sollen. Erst an dieser Frage wird sich entscheiden, welche Optionen es für den Fortbestand der Ukraine als unabhängigen, demokratischen Staat in seinen Landesgrenzen gibt.
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