- Zum Artikel: Großer Zapfenstreich: Merkel ruft zum Kampf für Demokratie auf
Angela Merkel ist nicht gerade für heftige emotionale Regungen bekannt. Ihre Gesichtsausdrücke lassen mitunter erahnen, was sie bewegt, aber genau weiß man es nicht. Die scheidende Bundeskanzlerin lässt sich nicht nur politisch ungern in die Karten sehen. Einblick in ihr Seelenleben gewährt sie ebenso sehr selten.
Nun lässt sie mir ihrer Musikauswahl zum Zapfenstreich erahnen, was sie berührt: "Du hast den Farbfilm vergessen" von Nina Hagen, "Für mich soll's rote Rosen regnen" von Hildegard Knef und das ökumenische Kirchenlied "Großer Gott, wir loben Dich" versprechen Unterhaltung und Emotion gleichzeitig.
Kanzlerin und Emotion – eine Seltenheit
Wie der Mensch Angela Merkel tickt, hat die deutsche Öffentlichkeit spät erfahren. Die Kanzlerin war bereits zehn Jahre im Amt, als sie ihre innere Grundhaltung 2015 nach außen kehrt. Den heftigen, teils offen ausländerfeindlichen Diskussionen über die vielen Geflüchteten, die nach Deutschland kommen, setzt Merkel entgegen: "Wenn wir jetzt anfangen, uns auch noch zu entschuldigen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land."
Ihren berühmten Satz "Wir schaffen das" kassiert sie nie. Im Gegenteil: Sie wiederholt ihn mehrmals. Offensichtlich will sie damit verdeutlichen, was ihr wirklich ernst ist, wovon sie keiner abbringen kann. Weder Druck aus Europa noch Druck aus der Schwesterpartei CSU.
Höchste Emotionen in der Corona-Pandemie
Zum Ende ihrer Amtszeit erlebt Deutschland eine andere Kanzlerin. Corona geht Angela Merkel sichtbar für alle an die Nieren. Einsame Menschen, sterbende Senioren – die Kanzlerin fleht regelrecht um Kontaktbeschränkungen, immer und immer wieder: "Wenn wir jetzt vor Weihnachten zu viele Kontakte haben und es anschließend das letzte Weihnachten mit den Großeltern war, dann werden wir etwas versäumt haben."
Merkel ist der Verzweiflung nah, wenn sie spürt, dass all die Maßnahmen nichts nützen, wenn eigenwillige Ministerpräsidenten nicht mitziehen, wenn es in der Bevölkerung zu viele Skeptiker gibt. "Es ist ernst, nehmen sie es auch ernst", mahnt sie zu Beginn der Pandemie. Am Ende ihrer Amtszeit sind mehr als 100.000 Menschen nach einer Corona-Infektion gestorben.
Pokerface gegen Demütigungen von Männern
Angela Merkel kann ihre Gefühle für sich behalten. Gründe, um unwirsch zu werden, hätte sie oft genug gehabt. Gleich zu Beginn ihrer Kanzlerschaft versucht Gerhard Schröder, der abgewählte Bundeskanzler der SPD, sie lächerlich zu machen. Ob man im Ernst glaube, dass Merkel eine Regierung mit der SPD bilden werde. Da müsse man die Kirche im Dorf lassen, poltert Schröder am Wahlabend. Angela Merkel sitzt Gerhard Schröder direkt gegenüber, er aber spricht über sie, nicht mit ihr. Merkel wird weder aufbrausend noch weist sie ihn zurecht, wer hier eigentlich die Wahl gewonnen hat. Sie bleibt ruhig. Das wird ihr im Lauf der Jahre bei vielen Herren helfen.
Ob nun Wladimir Putin seinen Hund zum Fototermin bringt – wohlwissend, dass Angela Merkel Angst vor Hunden hat – oder ob Donald Trump sich weigert, ihr die Hand zu geben. Höchstens an ihrer Mimik – Augenrollen, Augenbrauen hochziehen, Schnute machen – lässt sich erahnen, was sie denkt.
Tränen und Rührung bei Schröder und Kohl
Angela Merkels Amtsvorgänger Gerhard Schröder und Helmut Kohl waren bei den Zeremonien zum Abschied zutiefst gerührt. Als das Stabsmusikkorps der Bundeswehr 2005 als letztes Lied Frank Sinatras "My Way" intonierte, hatte der scheidende Kanzler Tränen in die Augen.
Helmut Kohls Reaktion auf das höchst emotionale "Freude schöner Götterfunken" war 1998 in der Dunkelheit vor dem Kaiserdom in Speyer nicht zu sehen. Aber in seiner kurzen Rede brach ihm am Ende fast die Stimme, als er "unserem Vaterland Glück und Gottes Segen" wünschte.
Musikmischung als Herausforderung für das Stabsmusikkorps
Dass sich Angela Merkel den DDR-Hit "Du hast den Farbfilm vergessen" zum Abschied wünscht, dürfte wohl die größte Überraschung sein. Die ironische Sicht auf die Mangelwirtschaft im Arbeiter- und Bauernstaat hat Nina Hagen einst berühmt gemacht. Merkel hat oft erwähnt, dass sie damals in der DDR nichts sehnlicher erwartete als die Jeans von der Verwandtschaft aus dem Westen. Im Osten gab es sowas ja nicht.
Das Stabsmusikkorps der Bundeswehr probt jedenfalls unentwegt für heute Abend. Noten für Militärmusikorchester gibt es schließlich nicht für den Schlager. Ebenso verhält es sich mit Hildegard Knefs "Für mich soll's rote Rosen regnen". Auch diesen Hit muss die Bundeswehr erst noch kräftig üben.
Leichter dürften die Lieder sein, die zu jedem Zapfenstreich gehören: "Ich bete an die Macht der Liebe" und die Deutsche Nationalhymne haben noch jede Zeremonie dieser Art abgerundet. Unterschiedlich war nur die Anzahl an Taschentüchern, die bis dahin gezückt wurden.
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