Es war eine Zitterpartie bis zum Schluss: Nach monatelangem, teilweise erbittertem Streit hat die EU das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur beschlossen. Noch zum Auftakt der entscheidenden Sitzung der zuständigen Ministerinnen und Minister am Vormittag in Luxemburg war offen, ob eine Mehrheit für das sogenannte "Renaturierungsgesetz" zustande kommt.
In der Aussprache betonten mehrere Ressortchefs und -chefinnen, dass sich die EU-Mitgliedsstaaten schon im November auf einen gemeinsamen Standpunkt verständigt hatten. Sie verlangten, die Regelung um der Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit willen jetzt abschließend zu bestätigen. Das haben die EU-Staaten schließlich auch getan: Unter anderem votierten Deutschland, Frankreich, Spanien und Österreich dafür. Bundesumweltministerin Steffi Lemke spricht von einem klaren Signal für Europas Kompromissfähigkeit.
Koalitionskrach in Wien
Die österreichische Umweltministerin Leonore Gewessler von den Grünen nimmt für ihre Zustimmung am Ratstisch in Luxemburg einen Krach in der schwarz-grünen Koalition in Wien in Kauf. Denn Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer von der ÖVP hatte eine Enthaltung seines Landes verlangt und droht mit einer Nichtigkeitsklage vor dem Europäischen Gerichtshof. Gewessler hält dagegen, ihre Entscheidung für das Gesetz sei rechtlich gut abgesichert und rechtskonform.
Die Grünen-Politikerin nennt den Beschluss zukunftsweisend und spricht von einem Sieg für den Schutz der Lebensgrundlagen. Sie hatte die Regelung stets unterstützt und begründet ihr Ja damit, dass in Österreich zuletzt die einheitliche Front der Bundesländer gegen die Regelung aufgebrochen sei, nachdem Wien und Kärnten ihre Opposition aufgegeben hatten. Aus Sicht des belgischen EU-Ratsvorsitzes, der die Sitzung organisierte, ist die Lage klar: Die anwesende Ministerin im Saal stimmt ab, der Rest ist ein innerösterreichischer Streit, der den Ratsvorsitz nichts angeht.
Mehrere Gegenstimmen
Italien, Polen, Ungarn und die Niederlande stimmten gegen das Gesetz. Ihre Ministerinnen und Minister bemängelten in der Debatte unter anderem, es führe zu mehr Bürokratie und neuen Auflagen für die Landwirtschaft.
Die Regelung verpflichtet die Mitgliedsstaaten zu Maßnahmen, um bis 2030 mindestens ein Fünftel der geschädigten Land- und Meeresflächen wiederherzustellen. Dafür sollen mehr Bäume gepflanzt, Städte begrünt und Moore in ihren natürlichen Zustand versetzt werden. Die EU-Länder sollen dafür sorgen, dass die Zahl der Schmetterlinge zunimmt, dass Hecken gepflanzt und alte Wälder erhalten werden und Äcker mehr Kohlenstoff speichern können. Der Beschluss verpflichtet die Mitgliedsstaaten, Hindernisse in Flüssen zu entfernen. In sieben Jahren sollen so mindestens 25.000 Flusskilometer frei fließende Gewässer werden.
Die Hauptstädte müssen Brüssel regelmäßig darlegen, wie sie die Ziele erreichen wollen und über Fortschritte berichten. Regierungen können aber die Notbremse ziehen, wenn außergewöhnliche Ereignisse die Verfügbarkeit von Ackerland EU-weit einschränken. Dann dürfen sie die Maßnahmen für höchstens ein Jahr aussetzen. Auch bei der Wiedervernässung von Mooren bekommen stark betroffene Länder Spielraum.
Folgen des Klimawandels eindämmen
Außerdem sind die Vorgaben für Moore nicht verpflichtend für Landwirte und private Landbesitzer. Flächenstilllegungen sind nicht vorgesehen. Das Gesetz soll unter anderem dazu beitragen, dass die EU mit den spürbaren Folgen des Klimawandels besser zurechtkommt.
Bundesumweltministerin Lemke wertet das Gesetz als Zeichen für einen besseren Schutz der Bevölkerung, etwa vor Hochwassergefahr. Dafür brauche es die Renaturierung von Flüssen und Auen. Woher das Geld für die Maßnahmen kommen soll, ist unklar, solange der nächste mittelfristige Finanzrahmen der EU nicht steht. Die Fördertöpfe der gemeinsamen Agrarpolitik sollen dafür jedenfalls nicht angezapft werden. Die EU-Kommission wird ausrechnen, wie viel die Wiederherstellung der Natur kostet.
Heftige Debatte
Vor der entscheidenden Abstimmung im Rat der EU-Mitgliedsstaaten hatte das Europäische Parlament im vergangenen Jahr kontrovers über den Entwurf debattiert. Die christdemokratische EVP-Fraktion, in der die Europaabgeordneten von CDU und CSU sitzen, blockierte das Vorhaben – obwohl es Bestandteil des "Green Deal" ist, des Plans von EU-Kommissionschefin und EVP-Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen, Europa nachhaltig umzubauen.
EVP-Abgeordnete sahen die Ernährungssicherheit gefährdet und nannten den Gesetzentwurf handwerklich schlecht. Nach Darstellung der Grünen kann die EU ohne das Gesetz weder das Artensterben stoppen noch ihre Klimaziele schaffen. Die sollten schließlich auch erreicht werden, indem Wälder und Böden Kohlendioxid speichern. Das gehe aber nur, wenn diese gesund sind.
Proteste vor dem Parlament
Vor der entscheidenden Abstimmung protestierten im vergangenen Sommer Landwirte und Klimaschützerinnen vor dem Parlamentsgebäude in Straßburg. Das Gesetz bekam eine knappe Mehrheit. Tausende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben in einem offenen Brief Argumente der Gesetzesgegner zurückgewiesen. Ihrer Ansicht nach sind die größten Risiken für die Ernährungssicherheit der Klimawandel und der Verlust der biologischen Vielfalt. Nach EU-Angaben sind rund 80 Prozent der Lebensräume in der Europäischen Union in einem schlechten Zustand.
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