Ausgelöst von dem Krieg in Gaza nach dem Massaker der Terrororganisation Hamas am 7. Oktober spitzen sich antiisraelische Proteste an den Universitäten in den USA zu. Pro-palästinensische Studierende und andere Aktivisten demonstrieren an den US-Hochschulen gegen Israel. In Los Angeles gab es Zusammenstöße zwischen rivalisierenden Gruppen. An der Columbia Universität in New York ist die Lage jetzt vollends eskaliert.
Hamilton Hall wird Hilds Hall
Dort hatten Protestierende die Hamilton Hall, ein Gebäude auf der Ostseite des Campus, besetzt und umbenannt in "Hinds Hall" - nach Hind Rajab, dem sechsjährigen Mädchen, dessen Tod im Gaza-Krieg im Januar durch die Medien ging. Ein Großaufgebot der Polizei rückte an, räumte das verbarrikadierte Haus und nahm rund 100 Protestierende und Aktivisten fest.
Die Präsidentin der Elite-Universität, Minouche Shafik, hatte um Unterstützung der New Yorker Polizei gebeten, nachdem die Protestierenden mehrere Ultimaten zur Räumung der Halle und des Campus verstreichen gelassen hatten. "Das Recht einer Gruppe, ihre Ansichten auszudrücken, kann nicht auf Kosten des Rechts anderer Gruppen gehen, zu sprechen, zu lehren und zu lernen", hatte Shafik verkündet.
Antiisraelisch, nicht antijüdisch?
Der Universitäts-Leitung sei nichts anderes mehr übrig geblieben nach der Hausbesetzung, so Andreas Wimmer, Soziologie-Professor an der Columbia-Universität. Gefragt nach der aktuellen Lage auf dem Campus sagte der Wissenschaftler, es gebe jüdische Studenten, die sich unsicher fühlten und Angst hätten, das seien aber nicht alle: "Wie weit verbreitet dieses Gefühl der Unsicherheit ist, ist schwer einzuschätzen. Es gibt auch oder gab bei den Protestierenden eine große Gruppe von jüdischen Studierenden, ungefähr ein Viertel und fühlen sich natürlich nicht unsicher, selbst in der Mitte der Proteste nicht".
So mischen sich auf dem Campus Stimmen, die sich beschweren: "Wir haben in den letzten Wochen so viel puren abscheulichen Hass gegen uns gesehen", so der jüdische Student Ben, mit solchen, die Wert auf Differenzierung legen: "Ich möchte als jüdische Studentin auf dem Campus etwas sagen. Ich denke, die grundlegende Meinungsverschiedenheit besteht darüber, ob es antisemitisch ist, gegen den Krieg und seine Art zu sein. Ich denke, das ist ein gefährliches und problematisches Narrativ. Solange wir das für antisemitisch halten, sollten die Proteste nicht stattfinden. Aber ich glaube nicht, dass es so ist". So eine von drei Studentinnen, die Bens Klage so nicht stehen lassen wollten.
Die Leiterin der Columbia Universität hatte schon bei ihrer Anhörung im Kongress im April versichert, dass der pro-palästinensische Protest auf dem Campus nicht "als antijüdischer Protest gelabelt" sei, sondern "als israelkritisch", so Minouche Shafik. Beabsichtigt waren demnach die antisemitischen Vorfälle, die es auf dem Campus durchaus auch gab, nicht.
"Beziehungen mit Israel kappen" fordern Studierende
Keine Deals mehr mit Israel, das fordern Studierende in New York von der Rektorin der Columbia-Universität, oder wie es eine Studentin ausdrückt: "Es gibt viele Institutionen, die Geschäfte mit dem Apartheidstaat Israel machen. Wir drängen sie, diese Beziehungen mit Israel zu kappen".
Für den Columbia-Soziologie-Professor Andreas Wimmer ist gerade dieser Punkt interessant, dass sich die antiisraelischen Proteste nicht gegen die Israel-Politik der US-Regierung richten, sondern gegen die Uni-Leitung. "Die Studierenden projizieren, wenn ich das so sagen darf, jetzt diesen ganzen Konflikt auf den Campus, was meines Erachtens auch nicht unproblematisch ist. Anstatt also die amerikanische Außenpolitik direkt beeinflussen zu wollen – also die Zeltcamps in Washington DC aufzustellen – fordern die Studierenden, die Investitionen der Universitäts-Stiftungsvermögen in Firmen, welche mit Israel Geschäfte treiben, zu unterbinden", so Wimmer.
Proteste für rechtskonservative Kräfte "ein gefundenes Fressen"
Es gebe Versuche verschiedener politischer Kräfte, dazu gehöre die Regierung natürlich selbst, vor allem aber auch rechtskonservative Kräfte, die ganzen Proteste zu delegitimieren, indem sie als durchgängig antisemitisch bezeichnet werden. Das hält Wimmer "in dieser Pauschalisierung" für falsch, für eine Diffamierung. "Das Motiv dieser verschiedenen Kräfte ist unterschiedlich", so Wimmer. "Die Regierung selbst will natürlich Kritik an der Unterstützung Israels möglichst zum Schweigen bringen. Für die rechtskonservativen Kräfte sind die Campus-Proteste und die einzelnen antisemitischen Vorfälle, die es tatsächlich gab, natürlich ein gefundenes Fressen. Sie sehen also hier einen Hebel, um die liberalen linken Universitäten insgesamt zu diffamieren und unter ihrer politischen Kontrolle zu bringen."
So schnell wird sich die Lage wohl nicht beruhigen, glaubt Andreas Wimmer. Weitere Polizeieinsätze oder zumindest Polizeipräsenz an der Universität werde es wohl geben, sagte er dem BR im Interview. Der 15. Mai sei so ein kritischer Termin. Dann werden die Diploma an den Abschlussjahrgang verteilt, was traditionell mit einer großen Feier auf dem Campus stattfindet.
Aber schon gestern, ein Tag nach der Räumung des Campus durch das große Polizeiaufgebot, gab es wieder Kundgebungen vor der Universität, die die Studierenden ermuntern und zu weiterem Protest aufrufen. "Enjoy your free speech". Im Namen der Anti-Vietnam-Proteste von 1968 ruft ein Professor der Columbia-Universität zum Widerstand gegen Universität und Präsident Bidens Politik auf.
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