Ein Champagnerfrühstück mit der Familie sollte das letzte Ereignis im Leben von Sigrid Thiel sein. Mit Lachs, Sekt und frischen Brötchen. Schon länger hatte die 92-jährige ihren assistierten Suizid geplant. Sie war zwar noch geistig fit, litt aber unter Fuß- und Rückenschmerzen. Bevor sie zum Pflegefall würde, wollte sie ihren Todeszeitpunkt selbst bestimmen.
Die sogenannte geschäftsmäßige – also auf Wiederholung angelegte – Sterbehilfe war in Deutschland bis 2020 verboten. Dann kippte das Bundesverfassungsgericht dieses Verbot. Eine gesetzliche Neuregelung gibt es bislang aber nicht. Zwei Gesetzesentwürfe fanden im Bundestag im Sommer 2023 keine Mehrheit. Noch immer warten Patienten, Angehörige, Ärztinnen, Ärzte und Pflege-Einrichtungen auf Leitplanken, die festlegen, welche Regeln eingehalten werden müssen, damit Menschen ihr Leben selbstbestimmt beenden können.
Zahl der assistierten Suizide steigt an
Dabei helfen wollen Sterbehilfevereine wie die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS). Kostenpunkt: 4.000 Euro für Vorbereitung und Durchführung eines assistierten Suizids für eine Einzelperson, 6.000 Euro für Paare. In den vergangenen Jahren entschieden sich immer mehr Menschen dafür, ihr Leben auf diese Art und Weise zu beenden: Bei der DGHS waren es 2023 schon 419 assistierte Suizide, ein Jahr zuvor 229, 2020 - im Jahr des Bundesverfassungsgerichtsurteils - 18. Wichtig ist dem Verein, der mittlerweile 31.000 zahlende Mitglieder hat, die Freiverantwortlichkeit bei der Sterbehilfe: Der Patient oder die Patientin müssen wissen, was sie tun, dürfen nicht aus einem Affekt heraus handeln, sondern müssen einen dauerhaften Sterbewunsch haben, dürfen nicht von Dritten beeinflusst werden und müssen den Freitod eigenhändig ausführen.
Das hat auch Sigrid Thiel so gemacht. "Sie hat den Lauf der Infusion geöffnet und dann irgendwann gesagt, dass sie noch gar nichts merkt", erinnert sich ihr Sohn Jan. "Sie hat gesagt, dass sie nur den Champagner spürt. Das waren ihre letzten Worte." Unterstützt bei ihrer Selbsttötung haben Sigrid Thiel ein Arzt und eine Sterbehelferin vom Verein Dignitas.
Sorge vor Ausnutzen von Notlagen
Für Deutschland brauche es nun aber eine gesetzliche Regelung, wünscht sich Professorin Johanna Anneser. Die Oberärztin leitet die Palliativstation im Klinikum rechts der Isar der TU München. "Für die Juristen mag geklärt sein, dass der assistierte Suizid straffrei ist." Ungeklärt sei aber weiterhin, wie Menschen, die dies wünschen, zu einem assistierten Suizid kommen könnten. Zudem fordert sie, Menschen davor zu schützen, dass ihre Notlage ausgenutzt würde, sie in den assistierten Suizid getrieben würden und dann damit Geld verdient werden kann. Auch der evangelische Klinikseelsorger Frank Nie aus Erlangen betont, dass Menschen sich niemals zu einem assistierten Suizid gedrängt fühlen dürften. "Dass sie nicht denken, dass sie jetzt nichts mehr leisten können und ihre Kinder sich kümmern müssten und dass sie deswegen lieber sterben", sagt er. "Da habe ich Bedenken, dass das ein Trend wird."
Selbstbestimmung in existenziellen Fragen einerseits, Schutz des Lebens andererseits: Pflegeeinrichtungen, Caritas und Diakonie, Ärzte und Angehörige befinden sich beim Thema assistierter Suizid oft in einem Dilemma. Einem Bericht des "Tagesspiegel" zufolge soll es nun einen neuen Versuch geben, die gesetzlichen Rahmenbedingungen abzustecken. Wann solch eine neue Regelung kommen könnte, ist aber noch offen.
Neuer Versuch, gesetzliche Rahmenbedingungen zu schaffen
Jan Thiel sagt, er könne nachvollziehen, dass seine Mutter im selbstgewählten Freitod eine Erlösung sah. Für seine Frau und ihn war es dennoch keine einfache Situation. Thiel hätte gern noch mehr Zeit mit seiner Mutter gehabt, konnte sie aber nicht umstimmen. Sie sei "lebenssatt" gewesen. Im Rückblick kann er heute dennoch sagen: "Sie ist mit einer Leichtigkeit gegangen."
Rund um das Thema "Ich mag nicht mehr: Der Umgang mit assistiertem Suizid" geht es in der Sendung STATIONEN, am Mittwoch, 22. Mai 2024, um 19 Uhr im BR Fernsehen und in der ARD Mediathek.
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