Er nannte Antisemiten "Lümmel": Konrad Adenauer, erster deutscher Bundeskanzler
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Er nannte Antisemiten "Lümmel": Konrad Adenauer, erster deutscher Bundeskanzler

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"Aufbruch des Gewissens": Wie die Deutschen die Moral entdeckten

Wie wurden wir gut? Und wurden wir es wirklich? Der Historiker Frank Trentmann stellt in seinem neusten Buch die große Frage nach der "Remoralisierung" der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Und zeigt, wie sie bis heute unsere Debatten prägt.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Vorhang auf für Veit Harlan? Nicht mit Erich Lüth. Der Pressesprecher des Hamburger Senats eröffnete 1950 die "Woche des deutschen Films" mit einem Boykott-Aufruf: Die Kinobesitzer sollten Charakter zeigen und den neuen Film des "Jud-Süß"-Regisseurs – eine Liebesschnulze – nicht spielen. Lüth wurde daraufhin von der Filmgesellschaft verklagt. Der Rechtsstreit ging bis zum Bundesverfassungsgericht, das Lüth 1958 schließlich recht gab.

Die Jugend revoltiert früh gegen das Vergessen

Ein Meilenstein der Verfassungsgeschichte, so der Historiker Frank Trentmann im Interview mit dem BR. Und nicht nur das. Solche Boykottaufrufe habe es in den Fünfzigern einige gegeben, so Trentmann. Vor allem junge Menschen stürmten in die Kinos, um die Vorführung des Harlan-Films zu stören.

Gleichzeitig wurde einer der ersten Filme über die deutschen Konzentrationslager intensiv rezipiert: "Nacht und Nebel", ein französischer Dokumentarfilm aus dem Jahr 1956, fand damals ein großes und vor allem junges Publikum. "Eine zunehmend weite gesellschaftliche Auseinandersetzung, die wir auch in den Schulen der Großstädte sehen, aber auch in kleinen Gemeinden", konstatiert Trentmann.

Die "Remoralisierung" zeigt sich noch in heutigen Debatten

Am Beispiel solcher Ereignisse erzählt der Historiker, der seit Jahren in London lehrt, von den moralischen Vorstellungen der Deutschen: eine Geschichte von innen und von unten. Sie beginnt 1942, unmittelbar vor der Schlacht um Stalingrad, und führt bis in die Gegenwart, zur öffentlichen, emotionalen Diskussion über die militärische Unterstützung der von Russland angegriffenen Ukraine.

Die Tiefe des moralischen Wandels in diesen acht Jahrzehnten dürfte vielen bewusst sein. Trotzdem ist es erhellend, Trentmanns historischen Analysen zu folgen. Er spricht von einer "Remoralisierung". Das Ideal tugendhaften Verhaltens durchziehe mittlerweile alle gesellschaftlichen Bereiche, privates und auch öffentliches Leben. So gebe es etwa "einen großen Konsens, dass wir umweltfreundlich denken und leben sollen", erläutert der Historiker mit Blick auf die Klimakrise.

Und doch ist die Realität immer wieder eine andere. Stichwort Klima: Deutschland hat gemessen an den Zielen noch immer einen viel zu hohen Kohlendioxid-Ausstoß.

Aufarbeitung schon vor 1968

Einen Schwerpunkt im Buch "Aufbruch des Gewissens" bildet die Auseinandersetzung mit den Verbrechen im Nationalsozialismus: das Auf und Ab der Strafverfolgung, ein intensives Ringen um die Schuldfrage, die Amnestie für die Täter und – mit ihr verbunden – eine umfangreiche "Selbstamnestie" der bundesdeutschen Justiz, dann wieder eine zunehmend kritische Beschäftigung. Sie setzte nicht erst mit den 68ern ein.

Frank Trentmanns Geschichte – das ist ein Verdienst – ermöglicht vielfach Tiefenschärfe. Zum Beispiel mit Blick auf den Verdienst der 68er. Diese hätten schon "halboffene Türen" eingerannt, so Trentmann. "Es gibt schon an den Schulen, an den Universitäten zunehmend Dialog. Zivilcourage wird von den öffentlichen Einrichtungen, Städten und Gemeinden mit Preisen belohnt. Schon in den 50er-Jahren beginnen die Menschen, sich als Partner zu verstehen. Da gibt es eine Fundamental-Demokratisierung. Die ist nie perfekt. Aber die Tendenz ist klar."

Trentmann erzählt – immer wieder gestützt auf Tagebücher und Briefe – eine Geschichte der deutschen Gesellschaft: in den letzten Kriegsjahren, in den Jahrzehnten der Teilung, im wiedervereinigten Land. Er schildert den Wandel der Vorstellungen über Armee und Wehrpflicht – und, damit verbunden, die Geschichte der Friedensbewegung.

Ebenso schreibt er über ehrenamtliches, bürgerschaftliches Engagement etwa für den Umweltschutz und die Auseinandersetzung mit Flüchtlingen zu unterschiedlichen Zeiten. Dazu kommen mentalitätsgeschichtliche Fragen, darunter das Verhältnis zum Geld.

Das alte Problem des Antisemitismus

Auch der Antisemitismus ist ein wichtiges Thema. Und bereits in den 50er-Jahren ein großes Problem, so Trentmann. So groß, dass Adenauer sogar die Westbindung in Gefahr sah. In einer Rede von 1959 verurteilte er die Attacken als "Schmierereien von Lümmeln". "Er hat sie verniedlicht, als ob das schlecht erzogene Jungs sind – in einer verantwortlichen Gesellschaft, in der Antisemitismus keinen Platz hat", kommentiert Trentmann.

Auch die Frage nach Deutschlands politischem und auch militärischem Engagement in den internationalen Krisen ist Thema der umfangreichen Moral-Geschichte: Frank Trentmann spricht von einer geopolitischen Verweigerung des wiedervereinigten Deutschlands. Und er weist darauf hin, dass die wirtschaftlichen Interessen des Landes in einer Welt zunehmender Konflikte immer häufiger über Kreuz stehen mit den westlichen Werten und der nationalen Sicherheit.

Große moralische Debatten werden uns weiterhin begleiten.

"Aufbruch des Gewissens" von Frank Trentmann ist im Fischer-Verlag erschienen.

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