Der kremlkritische russische Politologe Konstantin Kalaschew versucht es mit Galgenhumor und unterhielt seine Fans zum Auftakt der russischen Präsidentschaftswahl mit einem Witz: "An einem kleinen Fluss in Karelien, der Russland und Finnland voneinander trennt, angeln zwei Grenzschutzbeamte – ein Russe und ein Finne. Der Finne wirft seine Angelrute aus und holt jedes Mal einen großen Fisch aus dem Fluss. Der Russe kommt den ganzen Tag zu nichts. Als der Finne einen weiteren Eimer mit seinem Fang füllt, kann es der russische Grenzbeamte nicht ertragen und ruft ihm auf der anderen Seite des Flusses zu: 'Erklär mir bitte, warum du stets erfolgreich bist, ich aber nicht!' Der Finne antwortet: 'Es ist ganz einfach. Auf deiner Seite hat der Fisch Angst, sein Maul aufzumachen."
"Ziemlich schmerzhafter Zustand"
Kalaschew beließ es nicht bei dieser vielsagenden Humoreske und zitierte den französischen Denker René Descartes (1596 - 1650): "Die Mehrheit der Stimmen ist kein Beweis für Wahrheiten, die nicht ganz leicht herauszufinden sind, denn es ist weit wahrscheinlicher, dass ein einzelner Mensch die Wahrheit entdeckt, als ein ganzes Volk." (aus der "Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs", 1637)
Ähnlich sarkastisch zeigte sich Politologe Georgi Bovt, der darauf verwies, dass ein russischer Arzt kürzlich laut Nachrichtenagentur TASS ein neues Krankheitsbild nach einer Covid-Infektion beschrieben habe, das er "vernebeltes Gehirn" nannte: "Das ist ein ziemlich schmerzhafter Zustand, wenn das Bewusstsein einer Person nicht mehr richtig funktioniert, bis hin zum Punkt, dass die Person einige Fähigkeiten verliert, zum Beispiel die Fähigkeit zur Informationsverarbeitung. Die Person empfindet ihren Bewusstseinszustand als undurchsichtig, sie beginnt sehr langsam zu denken." Dazu Bovt: "Jetzt wird vieles von dem, was bei uns gerade passiert, klarer. Vernebeltes Gehirn, das ist der Begriff des Jahrzehnts."
"Plebiszitäre Führerdemokratie"
Putins "Wahlsieg" ist sowieso ausgemachte Sache, aber inzwischen glauben nicht wenige Fachleute, dass er es geschafft hat, sein autoritäres Regime so sehr zu zementieren, dass es selbst seinen eigenen Abgang überleben würde.
Klar, dass Propagandisten wie Sergej Markow diese Ansicht vertreten und auf eine Mischung aus "Härte und Flexibilität" verweisen, die Putin quasi unangreifbar machten. Markow macht kein Hehl daraus, dass russische Wahlen längst den "Charakter einer Volksabstimmung" hätten. Das Land sei eine "plebiszitäre Führerdemokratie", wie sie der deutsche Soziologe Max Weber (1864 - 1920) für charismatische Politiker definiert habe: "Kritik am Sieg Putins kombiniert Lügen mit völligem politischen Analphabetismus."
"Es kann viel schiefgehen"
Was sich bizarr liest, ist nach Auffassung der US-Forscher Michael Kimmage vom Center for Strategic and International Affairs und Maria Lipman von der George Washington University nicht ganz von der Hand zu weisen. Sie argumentieren im Fachblatt "Foreign Affairs", dass Putin tatsächlich sein Herrschaftssystem krisenfest gemacht habe. Über mögliche Nachfolger heißt es: "Sie würden das Militär und die Sicherheitsdienste im Griff behalten. Sie möchten nicht, dass interne Konflikte die geopolitische Position Russlands gefährden, und sie möchten die ideologischen Konstrukte, die Putin aufgebaut hat, nicht aufgeben. Das eröffnet die ernüchternde Möglichkeit, dass der Putinismus, der sich derzeit um eine einzige Person dreht, die Amtszeit von Putin selbst für immer überdauern könnte."
Der Krieg habe Putin jedenfalls bisher "gestärkt", so die amerikanischen Experten. Andererseits trage jedes autoritäre System die Saat des eigenen Untergangs in sich: "In einer kompromisslosen Diktatur kann viel schief gehen." Obwohl die Russen natürlich wüssten, dass Putin sterblich sei, könnten sich viele momentan "keine Zukunft ohne ihn vorstellen": "Der Kaiser sitzt auf seinem Thron und alles, was zu sagen bleibt, ist: 'Ave, Cäsar!'"
"Klarer Plan hat eine Schwachstelle"
Auch das Fachportal "Re:Russia" argumentiert in einer Analyse, Putin stehe derzeit besser da als ehedem und sei drauf und dran, in Russland einen sehr widerstandsfähigen "Kleptofaschismus" zu installieren, also eine Mischung aus Geldadel und Rechtsextremen. Um beiden Seiten gerecht zu werden, werde Putin einen Teil der Privatisierung der neunziger Jahre rückgängig machen und könne die verstaatlichten Pfründe und den beschlagnahmten Besitz westlicher Unternehmen an Karrieristen vergeben: "Allerdings hat dieser ziemlich klare Plan eine Schwachstelle. Die Logik von Putins Managementmodell setzt ein extrem hohes Maß an Konzentration wirtschaftlicher Macht in den Händen eines engen Kreises vertrauenswürdiger 'Familien' voraus. Das könnte sowohl zu akuten Konflikten bei der bevorstehenden Neuverteilung und bei Putins Abgang, als auch zu Enttäuschungen auf Seiten der neuen [Frontkämpfer-]Elite nach der Umverteilung führen."
"Leben gestützt auf Bajonetten ist niemals angenehm"
Diesen Einschätzungen will sich der prominente Polit-Kolumnist Andrej Kolesnikow in einem Beitrag für die Carnegie-Stiftung nicht anschließen. Er hält die "Stabilisierung" von Putins Regime für einen "Mythos": "Der Kreml wollte die Gesellschaft monolithisch umbauen und konsolidieren, aber er förderte lediglich das Doppeldenken und eine erlernte, passive Gleichgültigkeit. Es ist möglich, dass für die nächsten Jahre genügend Ressourcen vorhanden sind, um ein Regime am Leben zu erhalten, das nach dem Prinzip 'nach uns die Sintflut' lebt. Aber ein Leben gestützt auf Bajonette und Polizeiknüppel kann niemals angenehm sein."
Eine "negative Prämisse", nämlich Hass auf den Rest der Welt, könne keinesfalls "auch nur annährend stabil" sein, so Kolesnikow. Vorhersagen wollte er wohlweislich nicht machen, vielmehr verwies er auf den Psychologen Alexander Asmolow, der glaube, dass Putin von einer "immerwährenden Krise" abhängig sei, um seine Unterdrückungsmaßnahmen zu rechtfertigen: "Das Gefühl von Instabilität und Unruhe und die Angst vor einem Weltkrieg sind allgegenwärtig, doch der Alltag verläuft, als gäbe es überhaupt keinen Krieg."
"Freiheiten sind kriminell"
Dass es unter der scheinbar "stabilen" Oberfläche brodelt, zeigt ein gepfefferter Kommentar in einer der größten russischen Zeitungen, "Moskowski Komsomolez". Dort wird Alexander Dugin gegeißelt, der rechtsextreme "Vordenker" des Kremls und Liebling der Ultrapatrioten. Er träumt von einer totalen Mobilisierung, einem orthodoxen, "eurasischen" Gottesstaat und will die Russen samt und sonders aufs Land schicken.
"Mich interessiert sehr, warum eine Person, die sich den Grundbestimmungen und Prinzipien der russischen Verfassung widersetzt, sie sogar außer Kraft setzen will, nicht nur nicht vor Gericht gestellt wird, sondern sogar im Gegenteil zitiert und verherrlicht wird?" fragt sich Kommentatorin Ekaterina Saschnewa und bemerkt, dass Dugins Thesen "nach kurzer Zeit sogar von den höchsten Repräsentanten" übernommen würden.
Dem Philosophen schwebe offenbar ein Staat nach den Wunschvorstellungen iranischer Ajatollahs, gepaart mit den Idealen des antiken Sparta vor: "Tatsächlich sind in der Gesellschaft, die er beharrlich in Russland schaffen will, jegliche Menschenrechte und Freiheiten als Errungenschaften der modernen Zivilisation bedeutungslos und sogar kriminell." Es werde "mehrere Generationen dauern", um das wiederherzustellen, "was die Gegenwart zerstört" habe: "Sie wollen unseren Nachkommen jetzt ihre Lebenszeit stehlen. Wenn ihnen natürlich eine solches Menschenbild überhaupt in die Wiege gelegt wurde."
"Epischer Kampf zwischen Vernunft und Gefühlen"
Die russische Soziologin Maria Fil schrieb, der Westen werde sich wohl oder übel "in allen dringlichen Fragen" mit Putin arrangieren müssen: "Nur ein sehr naiver Mensch kann auf einen plötzlichen Macht- und politischen Kurswechsel in unserem Land hoffen. Deshalb werden wir im Westen in naher Zukunft einen epischen Kampf zwischen Vernunft und Gefühlen beobachten, der höchstwahrscheinlich zugunsten der Vernunft gelöst werden wird."
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