Für den russischen Propagandisten Sergej Markow war das der wichtigste Satz des eineinhalbstündigen TV-Interviews von Wladimir Putin: "Der Westen muss verstehen, dass der Tanz der Vampire zu Ende geht." Damit bezog sich der russische Präsident auf die gleichnamige Horror-Satire von Roman Polanski aus dem Jahr 1967 und wollte verdeutlichen, dass es angeblich eine "unfaire Situation in internationalen Angelegenheiten" zur Ausbeutung Russlands gibt. Was sein Verhältnis zu US-Präsident Joe Biden betrifft, sprach Putin von "einer Art Duell", dem er "irgendwie nicht viel Aufmerksamkeit" widme.
"Russland steht nicht am Scheideweg"
Skurril auch ein Hinweis Putins auf Mark Twains historische Satire "Ein Yankee an König Artus' Hof" (1889). Darin lässt der amerikanische Humorist einen Landsmann aus dem 19. Jahrhundert ins frühe Mittelalter reisen und macht sich über Ritterromantik lustig. Putin wollte auf Nachfrage nicht zurück an die Anfänge seiner politischen Karriere "reisen", weil alle seine früheren Äußerungen im jeweiligen "historischen und wirtschaftlichen Zusammenhang" zu sehen seien. Er bestätigte jedoch, dass er sich überfordert fühlte, als ihn sein Vorgänger Boris Jelzin fragte, ob er am Präsidentenamt interessiert sei: "Nicht weil ich vor irgendetwas Angst gehabt hätte, sondern weil der Umfang der Aufgaben enorm war und die Anzahl der Probleme jeden Tag wie ein Schneeball wuchs."
Aktuell gehe es nicht um "Angst", so Putin, sondern um Problemlösung. Eine Alternative zu seiner eigenen Politik schloss er auf Nachfrage aus: "Russland steht nicht am Scheideweg. Es befindet sich auf dem strategischen Weg seiner Entwicklung und wird nicht von diesem Weg abweichen." Im Übrigen wiederholte der Präsident die bekannten Propaganda-Botschaften, beteuerte, Russland sei grundsätzlich für einen Atomkrieg gewappnet, halte den Einsatz von nuklearen Waffen im Ukraine-Krieg allerdings nicht für nötig und scherzte, es sei einfacher, mit "Kokain-Süchtigen" zu verhandeln als mit "gescheiten Leuten".
"Können wir das schaffen?"
Dafür gab es jede Menge befremdete und ironische Reaktionen aus dem eigenen Land: "Wir kämpften also mit Satanisten, aber es näherte sich ihnen Verstärkung in Form von Vampiren", schrieb Politologe Andrej Nikulin konsterniert: "Es bleibt abzuwarten, welche Feinde als nächstes auftauchen – Ghule [leichenfressende Ungeheuer], Leichenfledderer, Freimaurer? Letztere sind allerdings von Beginn an in das Spielgeschehen eingebunden. Es gibt nur eine Frage: Können wir es schaffen? Gegen so eine Übermacht? Nach solchen Aussagen gibt es keine Fragen mehr. Jetzt ist alles klar."
Es zeuge von einer gewissen Ironie, wenn ausgerechnet der "Kannibale im Kreml" die westlichen Eliten als "Blutsauger" bezeichne, hieß es im oppositionellen Telegram-Kanal Nexta mit rund einer Million Abonnenten. Sehr anregend auch die Frage eines offenbar Gebildeten mit Hinweis auf die gleichnamige berühmte Radierung von Francisco de Goya: "Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Aber was gebiert der Schlaf der Ungeheuer? Das große Chaos?"
"Ich habe nur vor mir selbst Angst"
Die kremltreue Politikberaterin Elena Panina bezeichnete Putins "Tanz der Vampire"-Hinweis als "äußerst klare Botschaft". Russland werde nicht hektisch zwischen "Extrempositionen hin und her springen" und sei einstweilen "nicht dazu verdammt, aufs Ganze zu gehen". Sie fragte sich allerdings, was der Kreml tun werde, wenn "westliche Eliten den Spieß umdrehen": "Dann muss Russland reagieren, und zwar bis hin zu den extremsten Mitteln." Kollege Andrej Gusij empfand Putins Aussagen als "beruhigend" und empfahl anderen russischen Politikern weniger "bahnbrechende Ideen" in Umlauf zu bringen.
"In einer Welt, in der das Kapital regiert, wird der Tanz der Vampire niemals enden und in Russland gibt es mehr als genug einheimische Blutsauger", meinte ein russischer Netzkommentator lakonisch. "Es ist alles sinnlos, Putin verkaufte seine Seele an den Teufel", klagte ein Leser augenzwinkernd, ein anderer wollte sich schleunigst Geld leihen: "Womöglich muss ich es nicht zurückzahlen." Witzig gemeint war der Einwand, die russische Infrastruktur sei noch nicht bereit "für einen nuklearen Winter", sie müsse erst mal für einen normalen aufgerüstet werden. Die richtige musikalische Begleitung für den "Vampir"-Exkurs sei vermutlich AC/DC, hieß es.
"Mit dem würde ich keinen Wodka trinken", meinte ein St. Petersburger Leser bitter über Putins Auftritt, ein anderer schrieb: "Hurra, alle stürmen erst zu den Wahlen und dann in den Himmel." Mit unausgesprochenem Hinweis auf Putins oben erwähntes Angst-Zitat war auch zu lesen: "Ich bin Russe - ich habe nur Angst vor mir selbst." Offenbar verwechsle sich der Präsident ständig mit Russland, wurde gescherzt. Ein Atomkrieg habe auch seine "Vorteile": "Sie müssen keine Hypotheken mehr abzahlen." Manchem Russen fehlten nach eigener Darstellung die Worte für Putins Interview: "Sie haben mir beigebracht, nicht aus einer Pfütze zu trinken."
"Wann sagt der russische Präsident die Wahrheit?"
Exil-Politologe Anatoli Nesmijan machte sich darüber lustig, dass Putin einerseits stets vom Westen "getäuscht" sein will, andererseits jedoch im Interview klarstellte, dass er "niemandem" vertraue: " Sie müssen sich für eine Sache entscheiden, da sich diese beiden höchst gegensätzlichen Aussagen widersprechen. Man kann niemanden täuschen, der einem nicht vertraut. Nun, oder umgekehrt – wenn es möglich ist, ist das Gegenüber leichtgläubig. Ich hasse es, das zu sagen, aber ich frage mich: Wann sagt der Präsident die Wahrheit?"
Kremlkritische Beobachter machen sich inzwischen einen Spaß daraus, mitzuzählen, in wie vielen Interviews Putin beklagt, "hintergangen" worden zu sein. Die Angaben schwanken zwischen zehn und mehr Auftritten seit dem 18. Januar vergangenen Jahres.
Hoch umstritten war auch Putins Seufzer, dass sich der Personalmangel in Russland "in naher Zukunft nicht bessern" werde und das Problem "radikal" angegangen werden müsse: "Das klingt aus seinem Munde ziemlich unerwartet. Bisher ging man davon aus, dass alles nach Plan verläuft und selbst die Rekrutierung von Frontkämpfern weitgehend selbstverständlich erledigt wird." Ein kremlkritischer Blogger ätzte: "Für die kommenden Jahre haben wir demnach nur Pläne für noch mehr Krieg und neue Mobilisierungswellen."
"Wir blicken neidisch auf Blumenkübel"
Mit Blick auf die Wirtschaftsentwicklung bemerkte ein Polit-Blogger sarkastisch: "Putin glaubt, dass Russland die Chance hat, die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt zu werden. Wir erinnern uns daran, wie [Söldnerchef] Prigoschin die offiziellen russischen Streitkräfte zur zweitgrößten Armee machte, allerdings in Russland. Weitere Kommentare zur Wirtschaft erübrigen sich."
Die kremlnahe Nachrichtenagentur RIA Nowosti kommentierte Putins hochtrabende Zukunftsperspektiven unfreiwillig komisch: "Wir haben das beste Ballett der Welt und wir waren die ersten, die einen Menschen ins All geschickt haben, aber der Zustand der russischen Straßen ist seit Jahrhunderten Gesprächsthema, und wir blicken neidisch auf den Westen mit seinen Shampoos, seinen Gehwegen, Blumenkübeln auf Balkonen und gemütlichen Straßencafés. Weil die Ressourcen, selbst die kolossalen russischen Ressourcen, nie für alles gereicht haben – und jahrhundertelang eingesetzt werden mussten, um die dringendsten Probleme für das Überleben unseres Landes zu lösen, die in einem kontinuierlichen Strom auf es – auf uns – fallen."
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