Im Mittelpunkt von Dana Vowinckels Roman: Magarita, 15, Schülerin in Berlin. Ihr Vater Avi ist Chasan, Sänger und Vorbeter in der Synagoge. Ihre Mutter Marsha ist Linguistin und lebt in Israel. Die Eltern haben sich vor vielen Jahren getrennt, Margarita - gerade mitten in der Pubertät, im wilden Weg in eine neue Lebensphase - wächst bei Avi auf. "Ich finde sie sehr ernsthaft", sagt die Schriftstellerin im BR-Gespräch über ihre jugendliche Figur. "Na klar, sie ist störrisch und stürmisch. Aber sie ist eben auch sehr ernst zu nehmen." Zudem sei es eine schöne Gelegenheit gewesen, ein Erwachsenenbuch über die Jugend zu schreiben.
Sommerferien voller Blues
"Gewässer im Ziplock" ist auch kein Jugendroman. Dana Vowinckel erzählt die Geschichte einer Familie auf der Suche nach sich selbst, zwischen den USA, Israel und Deutschland. Margarita ist in den Sommerferien wieder mal bei den Großeltern in Chicago und möchte am liebsten gar nicht dort sein, sondern bei ihren Freunden in Berlin. Am Ende ihres Aufenthaltes kommen Vater und Großeltern auf die Idee, Margarita mit dem Flugzeug nach Tel Aviv zu schicken. Sie soll ihre Mutter Marsha kennenlernen, zu der sie bislang überhaupt keinen Kontakt hatte. Widerwillig macht sich Margarita auf den Weg nach Israel.
Die Reise wird in vieler Hinsicht denkwürdig, nicht nur, weil Mutter und Tochter erst einmal zueinander finden müssen - und es etliche Male ordentlich kracht. "Marsha ist sehr schlagfertig", erzählt Dana Vowinckel. "Ein schneller Humor macht sie aus. Und ein großer Pragmatismus." Sie habe etwas Kaltes und etwas Beherztes. "Sie ist überhaupt nicht religiös. Und gleichzeitig sehr jüdisch."
Der Vater als Feminist
Die dritte Hauptfigur ist der Vater Avi, ein sehr sensibler, tiefgründiger und besonnener Mensch, nicht nur von Berufs wegen - als Chasan - immer wieder unterwegs in Gebet, Psalmen und Gesang. Mit seiner Perspektive erfahren Leserinnen und Leser von Dana Vowinckels Roman viel über die jüdischen Traditionen, etwa über die Poesie der Psalmen und die Magie der Musik. Avi zog deshalb von Israel nach Deutschland, damit seine Tochter - nach ihrem 18. Geburtstag - nicht zum Militärdienst muss, was in Israel mit einer realen Lebensgefahr verbunden ist. Er will seine Tochter schützen.
"Avi war zuerst da", sagt Dana Vowinckel über die Arbeit an ihrem Roman. "Seinen Beruf - die Verschränkung des Religiösen mit dem weltlichen Gesang - fand ich sehr interessant." Wenn man einen guten Kantor oder eine gute Kantorin habe, dann bekomme man an Shabbat umsonst ein Konzert. Ebenso sei das Thema des alleinerziehenden Vaters spannend für das Schreiben gewesen. "Ich habe Avi gezwungen, Feminist zu sein."
Suche nach Identität
Am Beispiel der Biografien von Avi und Marsha setzt sich Dana Vowinckel auch mit verschiedenen Facetten jüdischer Identität in der Gegenwart auseinander. Margarita steht nicht nur mehr und mehr zwischen ihren Eltern, sondern eben auch zwischen den mit ihnen verbundenen Polen. Und weiß, sie muss ihre eigene Identität finden, als Jüdin und ebenso als junge Frau auf dem Weg ins Erwachsenenalter. Das ist eine wichtige Perspektive im Roman "Gewässer im Ziplock", der sich auf spannende Weise zwischen Komik und Tragik, Ernst und Humor bewegt. Immer wieder geraten die Figuren - mit ihren unterschiedlichen Temperamenten - aneinander. Es gibt herrliche Zoff-Szenen in dieser Geschichte.
Zum anderen aber findet sich immer wieder Angst im Gewebe des Romans. Die Shoah, die Ermordung der europäischen Juden, ist stets gegenwärtig, wiederholt wird der Terroranschlag im Jahr 2019 in Halle/Saale am jüdischen Feiertag Jom Kippur angesprochen. Dazu kommen viele kleine, beiläufige Szenen. Während Margarita auf ihrer großen Reise ist, macht Avi ein paar Tage Ferien auf der Nordseeinsel Spiekeroog. Er trägt bei seinen Spaziergängen stets eine Basecap, damit niemand die Kippa sieht.
Die Angst nach dem Terror der Hamas
Dana Vowinckel berichtet im Gespräch, auf das Thema Angst blickend, von einer für sie interessanten Erfahrung: Seit den entsetzlichen Terroranschlägen der Hamas am 7. Oktober 2023 trete die Angst immer mehr aus ihrem Roman hervor, sie quelle heraus. "Sie war immer da. Sie war beim Schreiben da." In den vergangenen Wochen habe sie zudem sehr viel mehr über Angst gesprochen, sagt die Schriftstellerin. Vielleicht sei ihr zuvor gar nicht bewusst gewesen, wie real sie wirklich ist.
Die Geschichte, die in "Gewässer im Ziplock" entfaltet wird, endet an Jom Kippur in diesem Jahr, am 24. und 25. September. Zwei Wochen später wurde Israel von der Hamas überfallen. "Man liest den Roman dadurch auch ein wenig, als sei da noch alles gut gewesen. Die Angst der Figuren wird in Folge des Attentates viel greifbarer", sagt Vowinckel.
Chanukka: Licht ins Dunkel
In diesen Tagen würde Margarita vermutlich Chanukka - das jüdische Lichterfest - feiern und vielleicht auch ihren Vater in der Synagoge singen hören. Das achttägige Fest erinnert an die Wiedereinweihung des zweiten Tempels in Jerusalem, nach dem Aufstand der Makkabäer im jüdischen Jahr 3.597 (146 v.u.Z). Der Aufstand richtete sich gegen die Seleukiden - hellenisierte Juden, die zu Anhängern der griechischen Kulte geworden waren und Zeus mit JHWH - das ursprünglich hebräische Tetragramm steht für den Namen Gottes - gleichsetzten. Angesichts des Terrors gegen die Menschen in Israel und des massiven Antisemitismus fällt Chanukka in diesem Jahr in eine sehr dunkle Zeit.
Dana Vowinckel sagt, sie liebe dieses Fest. "Ich finde, dass Chanukka oft Licht ins Dunkel bringt. Und ich glaube, im Moment muss man sich auch über die allerkleinsten Flammen beugen." Gleichzeitig sei dieses Chanukka ein anderes. Es sei viel weniger festlich. "Vielleicht ist es eher eine Suche nach den Flammen als ein Feiern."
"Gewässer im Ziplock" von Dana Vowinckel ist im Suhrkamp Verlag erschienen. Am 7. Dezember wurde bekannt, dass das Debüt der Autorin mit dem Mara-Cassens-Preis 2023 des Literaturhauses Hamburg ausgezeichnet wird.
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