Superromantisch ist der 39-jährige Lenny Abramov in Gary Shteyngarts "Super Sad True Love Story", und trotzdem wird's mit seiner Liebe nichts. Denn Lenny ist auch superaltmodisch, ein totaler Büchernarr – und das in einer Welt, in der die meisten Menschen schon den Geruch von Büchern verabscheuen! Der US-amerikanische Schriftsteller hat in seiner überbordenden – und doch im Grundton melancholischen – Satire über den Untergang des amerikanischen Imperiums viel zu schwarz gemalt. Zumindest, was die Welt der Bücher angeht.
TikTok: "Arbeitsinstrument für die Buchbranche"
Bücher, "echte Bücher" mit Haptik, nicht E-Books sind bei jungen Leuten wieder Trend, und schuld daran sind ausgerechnet die sozialen Medien, allen voran TikTok. "Wir freuen uns sehr über das positive Feedback aus der Literaturbranche und dass durch #BookTok wieder mehr Menschen die Lust am Lesen entdecken", sagte Tobias Henning, Deutschland-Chef der Plattform TikTok auf der Frankfurter Buchmesse. Und Buchmessen-Direktor Juergen Boos nannte TikTok "ein wichtiges Absatzinstrument für die gesamte Buchbranche".
Wie Werkzeuge in ihren Gewerken sonst auch, so hinterlässt auch TikTok deutliche Spuren in der Buchbranche. Das betrifft zum einen die Art der Bücher, die jetzt massenhaft Absatz finden. Der Renner auf der Plattform ist das neue Genre der "Romantasy", eine Mixtur aus Romanze und Fantasie, also eine packende Liebesgeschichte, die durch buchstäblich fantastische Wesen – wie Drachen, Elfen, Vampire oder ähnliches – zu scheitern droht. Prominentestes Beispiel im Augenblick: der Spiegel-Bestseller "Fourth Wing – Flammengeküsst" von Rebecca Yarros, zu dem im Dezember 2023 die Fortsetzung erschien: "Iron Flame". Das ist Romanstoff zum Mitbibbern und -schmachten, geschickt darauf ausgelegt, in Rekordgeschwindigkeit verschlungen zu werden. Auf TikTok berichten Fans, dass sie sich Urlaub genommen haben, um nicht mit dem Lesen des dicken Wälzers aufhören zu müssen.
Emotionen zählen
Es handelt sich bei den auf TikTok trendenden Büchern natürlich nicht nur um Romantasy, auch Thriller, Fantasy-Romane, klassische Literatur, Ratgeber und Autobiografien sind dabei. Aber als Faustregel kann man festhalten: je mehr Emotionen, desto mehr Likes und desto besser die Verkaufszahlen. Der autobiografische Roman von Jana Crämer etwa, "Das Mädchen aus der 1. Reihe", erzählt vom harten Weg, den die Autorin vom übergewichtigen Mobbingopfer zur großen Mutmacherin zurücklegte.
Mit Emotionen spielen nicht nur solche Bestseller, sondern auch die dafür werbenden Fan-Videos: "Wenn echte Menschen über echte Emotionen sprechen und damit Bücher empfehlen, kann da keine Werbeagentur mithalten", sagte Jana Crämer, die im vergangenen Herbst auf der Buchmesse bei den ersten TikTok Book Awards zur "Autorin des Jahres" gekürt wurde.
"Zeig mir mal ein Buch, das dich emotional zerstört hat" (externer Link), lautet die Aufgabe für die lesenden Verkäuferinnen von Buchgigant Hugendubel. Die Videos der Antworten sind bemerkenswert: Da werden Bücher empfohlen – Triggerwarnungen inklusive – weil sie einen "völlig fertig" gemacht haben, sodass man am Morgen auf dem Weg zur Arbeit in der S-Bahn noch heulte. Die lesenden Fans in diesen Clips haben alle dieselbe Botschaft: Was mich am meisten "emotional zerstört", gehört zum Besten, was ich je gelesen habe.
Fan-Community statt Kritiker
Ist die Vermittlung von Emotionen das erste Kriterium für die Güte von Büchern, haben Kritiker nicht mehr viel zu melden. Damit kommen wir zu einer weiteren Spur, die TikTok in der Buchbranche hinterlässt: Auf dieser Plattform haben vor allem Fans – lauter vor allem junge Leserinnen und Leser, die das Buch bereits verschlungen haben – das Sagen. Kritikerinnen und Kritiker, die früher in literarischen Talks oder den Feuilletons der Tageszeitungen erklärten, was gerade warum lesenswert ist, sind in der BookTok-Community eher Gegenstand des Spotts.
Julia Dippel etwa, Autorin von "Song to raise a storm", macht sich auf TikTok über Denis Schecks vernichtende Kritik ihres Bestsellers (externer Link) lustig, und sie ist dort nicht die einzige, die den ARD-Literaturexperten durch den Kakao zieht. Hat vor 20 Jahren ein Cover-Zitat aus dem Literarischen Quartett den Verkaufswert eines Buches erhöht, so ist es heute der TikTok-Aufkleber. Große Ketten wie Hugendubel haben längst eigene BookTok-Regale und -Tische aufgestellt. Auch in der bayerischen Provinz ist dieser Trend angekommen: Was auf TikTok viele Likes hat, wird auch dort von Fans bestellt und verändert die Verkaufsstrategien des Buchladens, wie Buchhändlerinnen von der Buchhandlung Kemme in Ostenhofen berichten (externer Link, möglicherweise Bezahl-Inhalt).
Verlage betreiben eigene TikTok-Kanäle
Auch viele Verlage reagierten auf die veränderte Nachfrage und haben eigene TikTok-Kanäle eingerichtet. Unter den Traditionsverlagen fällt da dtv als sehr agil auf – bei den ersten TikTok Book Awards auf der letzten Frankfurter Buchmesse wurde der Münchner Taschenbuchverlag als "Verlag des Jahres" ausgezeichnet. dtv hat zahlreiche "Romantasys" im Programm, neben "Fourth Wing – Flammengeküsst" auch den Bestseller von Tracy Wolff: "Charm". Der Verlag postet nicht nur kurze Fan-Videos über seine vielversprechenden Neuerscheinungen auf ´TikTok, sondern auch Videos von teils tanzenden Mitarbeiterinnen, die erzählen, wie toll es ist, inmitten von Büchern im Verlag zu arbeiten (externer Link).
Viele Verlage bewerben auf ihren TikTok-Kanälen auch andere Bücher gezielt für die junge Zielgruppe, wobei die Videos so unterschiedlich sind wie die Verlagsprogramme. Gemeinsam ist ihnen aber die Kürze der Videos und dass in den meisten Fällen junge, authentisch auftretende und der Zielgruppe von TikTok entsprechende Erwachsene ein Buch bewerben. Der Hanser Verlag etwa lässt eine junge Frau vor vollem Bücherregal erzählen, worum es in Fatma Aydemirs "Dschinns" geht (externer Link).
Aufwändige, oft farbenfrohe Gestaltung
Im Verhältnis zu den nüchternen weißgrundigen dtv-Taschenbüchern oder den puristischen Suhrkamp-Covern von früher sind die auf TikTok beworbenen Bücher die reinsten Farbexplosionen. Der Pinguin Verlag bewirbt Bestseller wie "Sorry, ich habe es nur für Dich getan" von Biance Iosivoni (externer Link) – diesmal keine Mixtur aus Fantasy und Romanze, sondern aus Romanze und Thriller – mit Hinweis auf den "krassen Farbschnitt der Erstausgabe".
Die jungen Leute lassen sich ihr Lesevergnügen auch etwas kosten. Wenn sie ihre Leseerfahrungen im Video posten, wollen sie nicht nur ein echtes Buch in den Händen haben, sondern ein wirklich schönes Buch: aufwändig gestaltet, zuweilen eben etwa mit Farbschnitt und verlockendem Cover. Das kostet natürlich, Rebecca Yarros' "Fourth Wing – Flammengeküsst" etwa 32 Euro – und das unterscheidet #BookToks-Renner auch grundlegend von den Groschenromanen von früher.
Versinken in dicken Wälzern trendet, Aussehen und Haptik von Büchern zählen wieder. Das treibt junge Leute auch wieder in die stationären Buchläden. Und dort können sie ihren Lesehunger stillen - mit TikTok-Tipps und Beratung wie etwa im Hugendubel oder in der Buchhandlung Kemme in Ostenhofen - oder auch ganz ohne TikTok. Bei CoLibris, einem kleinen Laden in München-Neuhausen versicherte der Buchhändler dem BR, er könne auch so immer wieder junge Leute für seine Bücher begeistern.
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