Neben der Ausgrabungsstätte der antiken griechischen Kolonie Chersones ist binnen weniger Jahre das sogenannte "Neue Chersones" entstanden.
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Neben der Ausgrabungsstätte der antiken griechischen Kolonie Chersones ist binnen weniger Jahre das sogenannte "Neue Chersones" entstanden.

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Chersones: Putins Disneyland auf der Krim

Neben der Ausgrabungsstätte der antiken griechischen Kolonie Chersones ist auf der Krim binnen weniger Jahre das sogenannte "Neue Chersones" entstanden. Ein ideologisches Zentrum des Putinismus samt Amphitheater und wuchtigen Museen.

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Die einen empfanden es als Versprechen, die anderen als düstere Prophezeiung: Seit 2017 hatten Reklametafeln in Chersones auf der Krim verkündet: "Bald wird es hier sehr schön". Derweil gruben sich Bagger in die Erde und Tausende Bauarbeiter arbeiteten ungeachtet des Krieges unter Hochdruck.

Auf einem ehemaligen Militärgelände direkt neben der Ausgrabungsstätte der antiken griechischen Kolonie Chersones ist binnen weniger Jahre das sogenannte "Neue Chersones" entstanden – ein ideologisches Zentrum des Putinismus. Die Anlage folgt dem Grundriss einer Freiluftkathedrale XXXL –das Stirnende nimmt das mächtige "Museum des Christentums" ein, auf das feierlich eine von Zypressen gesäumte Allee zuläuft. An ihr liegen das nicht weniger wuchtige Museum der "Krim und Noworossijas" und das Museum für die Antike und Byzanz. Zudem gehört ein Amphitheater zum staatsstolzen Ensemble, 1.000 Zuschauer finden hier Platz.

Die antike Chersones ist Weltkulturerbe

Evelina Kravchenko hat lange Zeit als Archäologin in Chersones gearbeitet. Sie ist Mitglied der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften und war maßgeblich an dem Rückbau sowjetischer Sünden in der antiken Stadt beteiligt, der Chersones den "Weltkulturerbe"-Titel der Unesco einbrachte. Das Amphitheater wiege zusammen mit den Zuschauern mindestens 320 Tonnen, sagt Kravchenko. Man habe mehrere massive Stützpfeiler an der Küste in den Boden gerammt. Durch die Veranstaltungen, die dort regelmäßig stattfinden, werde es laut, zudem herrsche ständige Bewegung.

Vor allem beunruhige sie "der Schallpegel, dessen Schwingungen natürlich auch Einfluss auf die archäologischen Funde haben". Sie seien den Vibrationen unmittelbar ausgesetzt. "Noch ist nichts zu sehen, aber schon in ein, zwei Jahren werden wir Risse beobachten können. Auch die Aussichtsplattformen, die sie überall errichtet haben, bereiten mir Sorgen. Sie wurden bis in tiefreichende Schichten betoniert. Entstanden ist hier im wahrsten Sinne des Wortes ein Disneyland", sagt die Archäologin.

Putin: "Russisches Mekka"

Russlands Präsident Wladimir Putin, der das "Neue Chersones" in Auftrag gegeben hat, nennt es ein "russisches Mekka". Eine Pilgerstätte des Putinismus an dem Ort, an dem sich Großfürst Wladimir auf der Krim am 28. Juli 988 getauft haben lassen soll – in der Folge nahmen die Russen das Christentum an. Unter Historikern ist es umstritten, ob Wladimir in Chersones getauft worden ist.

Für Putin ist es nichtsdestotrotz der Gründungsmoment des heutigen Russlands. Er ist zudem der Namenscousin des Kiewer Großfürsten und deutet die illegitime Krim-Annexion als gottgefälligen Sinnstiftung: "Genau hier ist ein sakraler Ort. Das Zentrum unserer geistigen Einheit, aus der sich heraus die russische Nation entwickelte und der einheitliche zentralisierte russische Staat. Es ist ein unglaublich wichtiger Ort für unsere Herzen, Seelen und unseren Glauben. Das ist natürlich heiliges Land für uns – für Russland", sagte Putin.

Die Architektur untermauert diesen Anspruch: Es geht in Nowyj Chersones zu, wie im alten Byzanz. Alle Gebäude zieren mit Reliefs geschmückte Tempelgiebel, dazu Säulenhallen, sprudelnde und glucksende Brunnen, tonnenschwere Heilige, dazwischen immer wieder Greife, mythische Mischwesen mit löwenartigem Rumpf und dem Kopf eines Raubvogels. Symbole für Mut, Stolz und Ehre. Putin türmt zu seiner eigenen Rechtfertigung einen russischen Tempelberg auf, der das antike Original nebenan mehr als gefährdet.

Der Sprung von Geschichte in Schein-Geschichte

"Sie haben das Weltkulturerbe zerstört", sagt Evelina Kravchenko. "Denn außer dem Kulturpark nebenan haben sie auch noch eine dem heiligen Wladimir geweihte Kirche so ausgebaut, dass die für Russland betenden Mönche dort komfortabel leben können. Dazu musste eine neue Kanalisation gebaut werden."

Außerdem führten jetzt Touristenpfade mitten durch die Ausgrabungsstätte hindurch, sagt die Archäologin. Alles werde einem propagandistischen Komplex geopfert, der die krude Weltsicht des Kreml verbreite. "Großfürst Wladimir hat die Schlüssel für Russland hier persönlich an Wladimir Putin übergeben. Das wird man nicht nur mit Artefakten zu dokumentieren versuchen, sondern vor allem mithilfe von Multimedia. Der ganze Komplex ist mit High Tech ausgestattet. Da wird es um Emotionen gehen, die den Verstand aussetzen."

Der Sprung von Geschichte in Scheingeschichte: Er schafft einen alle Zeiten umfassenden Herrschaftsanspruch, der religiös abgesegnet ist.

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