Was macht man, wenn der Teufel die Hand ausstreckt? Schlägt man sie aus? Oder schlägt man ein? Diese Frage verhandelt einer der bleibenden Romane aus dem Jahr 2023: Daniel Kehlmanns "Lichtspiel", die Geschichte des aus Österreich stammenden Filmregisseurs Georg Wilhelm Pabst, kurz G.W. Papst. Er zählte neben Fritz Lang und Friedrich Wilhelm Murnau zu den großen Kinokünstlern der Weimarer Republik.
Großes Interesse an der Zeitgeschichte
Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs musste G.W. Papst seine Pläne zur Emigration fallen lassen. Er blieb im "Dritten Reich" und machte, im Auftrag des Regimes, großes Kino. "Er widersteht nicht", sagt der Schriftsteller Daniel Kehlmann im Interview mit dem BR. "Er macht keine Propagandafilme. Er macht – und das ist auch das, was mich so interessiert hat und was wichtig ist für meine Geschichte und den Roman – gute Filme. Er ist ein guter Regisseur. Er macht unter diesen Umständen seine Arbeit gut. Es gibt nicht nur Druck, sondern auch eine gewisse Verführungskraft."
Das Interesse an der Zeitgeschichte ist – einmal mehr – ungebrochen, in der deutschsprachigen Literatur und ebenso im Sachbuch. Eines der erfolgreichsten historischen Bücher in diesem Jahr verknüpft Gesellschafts- und Familiengeschichte.
Deutscher Sachbuchpreis für Ewald Frie
Ewald Frie schildert in seinem Buch "Ein Hof und elf Geschwister" den Strukturwandel in der Landwirtschaft und die gleichzeitige Bildungsexpansion der 1960er Jahre in der Bundesrepublik. Ewald Frie, Professor für Geschichte an der Universität Tübingen, erzählt am Beispiel der eigenen Familie. Er stammt aus dem Münsterland und hat für sein Buch lange Gespräche mit den Geschwistern geführt.
Die "Oral History" eröffnet eine ganz eigene Perspektive. "Was mich überrascht hat, war, dass meine ältesten vier Geschwister die Landwirtschaft als zukunftsweisend gesehen haben", erzählt Frie. "Das hätte ich wissen können, habe ich mir aber so deutlich nicht vorgestellt. Weil bei mir und den Geschwistern um mich herum die Landwirtschaft als etwas gesehen wurde, das viel Arbeit macht, was nicht viele Möglichkeiten bietet, woraus man so schnell wie möglich aussteigt."
Für sein Buch über den langsamen Abschied vom bäuerlichen Leben erhielt der Tübinger Historiker den Deutschen Sachbuchpreis. "Ein Hof und elf Geschwister" steht seit mehr als 40 Wochen auf der "Spiegel"-Bestseller-Liste. Nach Angaben des Münchner Beck-Verlags ist die 15. Auflage in Vorbereitung. Ein großer kommerzieller Erfolg, in einem für den Buchmarkt in wirtschaftlicher Hinsicht angespannten Jahr.
Ein anderes Deutschlandmärchen
Und auch das ist eine persönliche Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte – und eines der bleibenden Bücher aus diesem Jahr: Dincer Gücyeters Roman "Unser Deutschlandmärchen", die vielstimmige Geschichte einer Familie, die aus der Türkei ins ferne Deutschland kommt – im Mittelpunkt die Mutter Fatma.
"Dieser Roman" so Gücyeter, "ist eine Verehrung, eine Verbeugung vor allen Frauen. Vor allen Frauen, die in der Fabrik arbeiten, in Bordellen, als Putzfrau – und die trotzdem immer noch die Hoffnung haben, die etwas bewegen wollen." Gücyeter - Theatermacher, Schriftsteller und Verleger - wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Bei der Preisverleihung im April richtete er sich an die ebenfalls nominierten Autorinnen und Autoren, rief sie zu sich auf die Bühne und sagte, er möchte diese Auszeichnung zu einem gemeinsamen Preis machen. Eine sehr bewegende Geste.
Neben Gücyeter wurden die Publizistin Regina Scheer und die Übersetzerin Johanna Schwering mit dem Preis der Leipziger Buchmesse geehrt.
Erste Leipziger Buchmesse nach drei Jahren Corona-Pause
Die Leipziger Buchmesse, die große Frühjahrs-Bücherschau, fand erstmals wieder nach drei Jahren Corona-Pause statt und stieß auf große Resonanz, wenn auch die Besucherzahlen – 274.000 – unter denen von 2019 blieben.
Auch die Frankfurter Buchmesse, die wichtigste Bücherschau der Welt, endete mit einer positiven Bilanz und zählte 215.000 Besucherinnen und Besucher. Als Gastland präsentierte sich in diesem Jahr Slowenien. Zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse, am 22. Oktober, erhielt der britisch-indische Schriftsteller Salman Rushdie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Rushdies Appell: "Nicht die Hoffnung aufgeben"
In seiner Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche rief Rushdie zur Verteidigung der Freiheit und der Wahrheit auf. "Was aber tun wir in Sachen Meinungsfreiheit, wenn sie auf derart vielfältige Weise missbraucht wird?", fragte Rushdie in der Paulskirche.
Seine Antwort: "Wir sollten weiterhin und mit frischem Elan machen, was wir schon immer tun mussten: schlechte Rede mit besserer Rede kontern, falschen Narrativen bessere entgegensetzen, auf Hass mit Liebe antworten und nicht die Hoffnung aufgeben, dass sich die Wahrheit selbst in einer Zeit der Lügen durchsetzen kann." Eine Sternstunde des Denkens.
Literaturpreise und ein besonderes Debüt
Den wichtigsten deutschen Literaturpreis – den Georg-Büchner-Preis – erhielt in diesem Jahr der Schriftsteller Lutz Seiler, ausdrücklich auch für sein lyrisches und sein essayistisches Werk. Der Jean-Paul-Preis, der Literaturpreis des Freistaates Bayern, ging an den Lyriker Nico Bleutge, den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann die Schriftstellerin Valeria Gordeev, Tonio Schachinger den Deutschen Buchpreis.
Mit dem Literaturnobelpreis wurde der norwegische Schriftsteller und Dramatiker Jon Fosse ausgezeichnet. Den Bayerischen Buchpreis erhielten Jan Philipp Reemtsma und Deniz Utlu.
Zu den bleibenden Büchern aus dem Literaturjahr 2023 gehört auch ein großartiges Debüt: Dana Vowinckels Roman "Gewässer im Ziplock", die Geschichte einer jüdischen Familie zwischen den USA, Israel in Deutschland. Im Zentrum: Margarita, 15 Jahre alt. Ihr Roman, so Dana Vowinckel, sei auch aus der Perspektive einer erwachsenen Figur geschrieben, die durch ihre Lebensumstände sehr schnell erwachsenen werden musste. "Dieses große Politische, dieses Zwischen-den-Welten-sich-befinden und die Fragen nach jüdischer Zugehörigkeit machen diese Figur auch erwachsener."
Dana Vowinckels Roman spielt im Jahr 2023 und spiegelt zugleich die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die Familiengeschichte endet an Jom Kippur, zwei Wochen vor dem brutalen Terrorangriff der Hamas gegen Israel.
Der literarische Betrieb in Deutschland ringt seitdem mit der Frage, wie man angemessen Solidarität mit den Opfern des Massakers zeigen kann. Diese Frage wird auch im neuen Jahr bestimmend sein.
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