"Darin sind wir einig, dass Baiern keinen bessern deutschen Mann aufzuweisen hatte." Das schreibt kein Geringerer als Jacob Grimm, der Märchenforscher, wahrscheinlich wichtigster deutscher Sprachwissenschaftler des 19. Jahrhunderts. Und er meint den vielleicht einzigen Kollegen, der auf Augenhöhe mit ihm war: Johann Andreas Schmeller.
Aus ärmlichsten Verhältnissen in den akademischen Olymp
"[E]del" und "liebenswürdig" sei dieser Schmeller gewesen, erfahren wir noch von Grimm, "bescheiden" außerdem. All diese Zitate stammen aus einem Brief, den Grimm nach Schmellers Tod im Jahr 1852 an die Bayerische Akademie der Wissenschaften richtet. Wer durch Werner Winklers neue Schmeller-Biografie blättert, wird kein gegenteiliges Bild finden.
Schmeller blieb, obwohl für sein Bayerisches Wörterbuch schon zu Lebzeiten gefeiert, ein Mann aus dem Volk – mindestens dem eigenen Selbstverständnis nach. "Unter Bauernkindern, der ärmsten eines, ward ich groß", schreibt er in seinen Tagebüchern.
Geboren wird Schmeller 1785 in Tirschenreuth in der Oberpfalz, heute ein Dorf an der tschechischen Grenze. Der Vater ist Korbflechter, ärmlichstes Milieu. Seine Herkunft habe Schmeller lebenslang verfolgt, meint Winkler. Ein Erbe, das er auch später, in den Münchner Salons, nicht abschütteln kann. Als "stummer Gast" unter den "Hochwohlgeborenen" empfindet er sich dort.
Der spätere König Ludwig I. gibt seinen Segen
Schaut man sich an, wie er Karriere gemacht hat, klingt das fast ein wenig kokett. Schmellers Glück ist seine enorme Begabung. Sein fotografisches Gedächtnis macht ihm das Lernen leicht. Zur Entspannung habe er Wörterbücher gewälzt, erzählt Winkler. Über 20 Sprachen eignet er sich so an, darunter Gotisch, Sanskrit, Arabisch, Hebräisch und Chinesisch.
So viel Talent bleibt natürlich nicht unbemerkt. Der Wunsch zu studieren scheitert noch am Geld. Sein Plan, sich mit der bayerischen Mundart zu beschäftigen, findet allerdings Zustimmung von höchster Stelle. Kronprinz Ludwig (später König Ludwig I.) unterstützt das Projekt. Und von da an läuft es.
1824 wird Schmeller Mitglied in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Ab 1827 arbeitet er an seinem Bayerischen Wörterbuch. Noch im selben Jahr erhält er die Ehrendoktorwürde der Münchner Universität. Und im Jahr drauf sogar eine Professur – er, der nie studiert hat.
Schmeller verfolgt ein sozialreformerisches Ziel
Die soziale Welt, in die er da geraten ist, mag Schmeller also fremd geblieben sein, seiner Karriere war seine Herkunft allerdings nicht abträglich. In gewisser Weise könnte man sogar sagen: Er hat sie produktiv gemacht.
"Dem Volk seine Würde zurückgeben" – so überschreibt Winkler sein Kapitel über die Entstehung des Bayerischen Wörterbuchs. Schmeller verfolgte, geprägt von den Ideen der Aufklärung, also auch ein sozialreformerisches Ziel. "Schmeller wollte nachweisen, dass die Sprache des einfachen Volkes durchaus ebenbürtig ist der Sprache der höheren Schichten", erzählt Winkler. "Und er schreibt selbst, dass es ihm gelungen ist, dem Volk wieder das Selbstbewusstsein zurückzugeben, das ihm von Haus aus zusteht."
"Wortklauber" nennt sich Schmeller. Er wandert durch Bayern, lässt sich von den Bewohnern Wörter erklären und beobachtete deren Bräuche. Akribisch notierte er alles auf kleine Zettel. 20.000 Begriffe stehen am Ende in seinem Bayerischen Wörterbuch.
Und auch wenn viele dieser Begriff heute wieder vergessen sind – zumindest langfristig scheint Schmellers Plan aufgegangen zu sein. Der Dialektstolz ist den Bayern ja nicht fremd. Und das ist nur ein Grund, weshalb es sich lohnt, durch Winklers Biografie zu stöbern. Gut geschrieben ist sie dazu. Und reich an Quellen aus einer Zeit, in der man Sprache so deutlich wie nie zuvor als Identitätsmarker erkannt hat.
Werner Winklers Biografie "Johann Andreas Schmeller. Heimat finden in der Sprache" ist im Regensburger Pustet-Verlag erschienen.
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