In einem vollen Atelier präsentiert ein ehemaliger Mitarbeiter von Joseph Beuys seine Arbeit.
Bildrechte: Helmut Mühlbacher
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Auf Tuchfühlung mit dem Künstler: Die Kunstsprechstunde feiert ihren 10. Geburtstag.

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Traunstein: 10 Jahre Kunstsprechstunde

Traunstein: 10 Jahre Kunstsprechstunde

Beim Thema Kunst denken die meisten Menschen an große Ausstellungen und die Ehrfurcht vor Künstler und Werk. Die Traunsteiner "Kunstsprechstunde" zeigt, dass Kunst auch nahbar ist und ein intensiver, gemeinschaftlicher Austausch möglich ist.

Über dieses Thema berichtet: Bayern 2 Zündfunk am .

Um über Kunst zu sprechen auf eine Art, wie das in Museen und Galerien selten gelingt, bäckt der Traunsteiner Konzeptkünstler Helmut Mühlbacher erst mal Pizza und holt Bier. Essen und Trinken sind fester Bestandteil seiner "Kunstsprechstunde": Ein Künstler bespricht seine Arbeit mit dem Publikum, auf Augenhöhe und in hemdsärmeliger Atmosphäre. Ein bisschen wie eine Klassenbesprechung an der Kunsthochschule, aber für alle: Künstler, Kunstinteressierte aus ganz Bayern, aber auch neugierige Traunsteiner Handwerker, die seit zehn Jahren regelmäßig kommen, wenn Helmut Mühlbacher zur Kunstsprechstunde einlädt.

Kunst auf dem Klappsessel

Nach dem Pizzabacken räumt der Künstler in seinem Gemeinschaftsatelier die Arbeitsmaterialien beiseite. Auf einem Tisch an der Wand baut er ein kleines Büffet auf, daneben platziert er ein Sparschwein für Spenden. In den Raum stellt er so viele wild zusammengewürfelte Stühle auf, wie irgendwie Platz haben: Ausrangierte Schulstühle, abgewetzte Klappsessel, ein Stuhl mit graugelbem Blumenmuster. Wer später kommt, steht oder setzt sich auf das Fensterbrett. Als vor sechs Jahren der ehemalige Beuys-Mitarbeiter Johannes Stüttgen an der Kunstsprechstunde teilnahm, drängten sich 80 Leute in dem 40 Quadratmeter großen Raum.

"Ping-Pong-Spiel zwischen Publikum und Künstler"

Das Publikum sitzt den vorstellenden Künstlerinnen und Künstlern nicht nur buchstäblich fast auf den Füßen. Auch im Gespräch kommt man den Künstlern so nahe wie selten. Oft präsentieren sie unfertige Arbeiten, reflektieren mit den Anwesenden ihren Werdegang, sprechen über Gefühle, Arbeitsbedingungen und künstlerische Entscheidungen.

Helmut Mühlbacher lädt oft Künstlerinnen und Künstler ein, die etwas zu einer aktuellen gesellschaftlichen Debatte beitragen. Oder alte Weggefährten von seiner Zeit an der Akademie der Bildenden Künste in München. Und regelmäßig Künstlerinnen und Künstler, die in der Region ausstellen. Die Gesprächsdynamik beschreibt Helmut Mühlbacher als "Ping-Pong-Spiel zwischen Künstlerinnen und Künstlern und dem Publikum". Es gehe nicht darum, "dass da jemand 1,5 Stunden lang einen Monolog hält und dann hat man fünf Minuten für Fragen'".

Die Rolle der Kleinstadt

Der intensive Austausch wird möglich, weil die Atmosphäre anders ist als in einem klassischen Kunstmuseum. Die Bildhauerin Regina Schmidt geht seit zehn Jahren zur Kunstsprechstunde. Für sie lebt das Format vom Persönlichen, vom nicht perfekt organisierten, improvisierten Charakter der Abende. Auch Helmut Mühlbacher betont: "Man kann kommen und gehen, wann man will. Und man muss keine Angst haben, dass man etwas Falsches sagt oder ein Bild nicht richtig anschaut." Außerdem spielt die Kleinstadt eine Rolle. In einer Großstadt würde die Kunstsprechstunde nicht funktionieren, ist sich Helmut Mühlbacher sicher. In Traunstein hat sich das Format herumgesprochen, es gibt treue Stammgäste, die kaum eine Ausgabe verpassen. Der Austausch wird dadurch umso intimer.

Qualitätskriterien unabhängig vom Kunstmarkt

Oft ruft das Publikum in der Kunstsprechstunde einfach in den Vortrag hinein, Menschen teilen ihre Assoziationen zu den Werken oder kritisieren die Vorgehensweise der Künstlerinnen und Künstler. Die Gesprächsthemen sind recht unterschiedlich, je nachdem, ob es um Musik, bildende Kunst, Tanz oder Architektur geht. Doch ein Programmpunkt zieht sich durch alle Veranstaltungen: Qualitätskriterien. Helmut Mühlbacher und seine Gäste arbeiten heraus, was ein Werk intensiv und relevant macht. Unabhängig von der Logik des Kunstmarktes, der für Helmut Mühlbacher zu oft auf den großen Effekt und Gefälligkeit setzt.

Beuys als Vorbild

Dabei will er sich auch von der passiven, ehrfurchtsvollen Betrachtung des fertigen Werks lösen. Viel mehr versteht der Konzeptkünstler Kunst als gemeinschaftlichen Prozess. Durch den Austausch über künstlerische Arbeit passiert etwas mit den Anwesenden, entsteht etwas Neues. "Das könnte man in den Kontext der sozialen Plastik nach Joseph Beuys stellen. Diesem erweiterten Kunstbegriff, dass die Kunst viel mehr ist als ein Gegenstand, den man sieht, sondern eine Haltung, eine Lebensform ist. Ich glaube, Beuys wäre begeistert von der Kunstsprechstunde."

Der Traunsteiner Strich

So ist auch das Kunstfestival "Traunsteiner Strich" ausgerichtet, das ein Kollektiv regionaler Künstlerinnen und Künstler zum 10. Jubiläum der Kunstsprechstunde organisiert hat. Ein imaginärer Strich durch die Traunsteiner Unterstadt verbindet Ateliers, Performances in Schaufenstern, Diskussionen und Konzerte. Es geht darum, Kunst anzubieten, ohne sie im klassischen Sinn auszustellen. So lädt das große Fenster von Helmut Mühlbachers Atelier am Samstag zu eigenen Performances ein. Es gibt eine Aktion zum internationalen Tag gegen Gewalt gegen Frauen. Und eine Podiumsdiskussion am Sonntag fragt – ganz im Sinne der Kunstsprechstunde – "wie elitär darf Kunst sein?"

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