Am kommenden Sonntag (1.9.) wird in Thüringen und Sachsen ein neuer Landtag gewählt. Bewahrheiten sich die Umfragen im Vorfeld, werden viele Menschen in den beiden Bundesländern ihre Stimme der AfD, einer als gesichert rechtsextrem eingestuften Partei, geben – einer Partei, die die liberale Demokratie offen angreift. Wie lässt sich das erklären? Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, Autor unter anderem einer zweibändigen Walter-Ulbricht-Biografie, fragt in seinem neuen Buch "Freiheitsschock" nach den Gründen für diese Entwicklung. Und erzählt zugleich eine andere Geschichte Ostdeutschlands seit der Friedlichen Revolution von 1989.
Die DDR – und damit die Diktatur – wirkten vielfach nach, so Kowalczuk. Schon in den 90er Jahren, gleich nach der Wiedervereinigung, hätten 40 bis 50 Prozent der Menschen im Osten Deutschlands eine demokratieskeptische Haltungen vertreten, so Ilko-Sascha Kowalczuk in seinem Buch. Seit einigen Jahren seien es sogar fast zwei Drittel. Die Folge: die immer größere Akzeptanz extrem autoritärer, auf einen starken Staat setzender Kräfte, rechts wie links. Stichwort: BSW.
Begünstigt das Aufwachsen in der Diktatur antidemokratische Einstellungen?
Die "Diktatursozialisierung" begünstige illiberales Denken, Nationalismus und Rassismus, betont Kowalczuk auch im BR-Interview. Irritierend finde er jedoch auch die Selbstverständlichkeit, mit der jene, die in Freiheit und Demokratie hineingeboren wurden, davon ausgingen, dass es eben so sein müsse und man nichts zu ihrem Erhalt tun müsse. Kowalczuk: "Diese Beobachtung habe ich in die Formel gepresst: Die Freiheit lässt sich nur in der Freiheit verraten."
Kowalczuks Buch "Freiheitsschock" ist einerseits historische Analyse der vergangenen 35 Jahre, andererseits ein persönlich argumentierender Essay, stets ausgehend von eigenen Erfahrungen – und immer wieder auch voller Pathos. Ebenso schreibt Ilko-Sascha Kowalczuk polemisch an gegen Verallgemeinerungen, etwa die These Dirk Oschmanns, der Osten sei nur eine Erfindung des Westens. Und ihn treibt die Weichzeichnung der DDR um, zu finden selbst in neueren historischen Darstellungen.
War die ostdeutsche Gesellschaft von der Wende überfordert?
Die SED, so erinnert Kowalczuk, führte einen permanenten Krieg gegen die eigene Gesellschaft, eine Erziehung zum Hass sei zentraler Punkt der politischen Agenda gewesen. "Millionen Menschen sind über Jahrzehnte hinweg ideologisch mit der hasserfüllten, todbringenden Ideologie des Leninismus gefüttert worden – und zwar von morgens bis abends, von der Wiege bis zur Bahre", so der Autor. "Und das wird man nur los, wenn man sich aktiv damit auseinandersetzt. Das verfliegt nicht einfach so."
Seine These vom Freiheitsschock – die Überforderung eines Großteils der ostdeutschen Gesellschaft nach 1989 – entwickelt Ilko-Sascha Kowalczuk unter anderem im Rückblick auf die Friedliche Revolution. Nicht die Ostdeutschen, also die Massen, haben aus seiner Sicht die Diktatur gestürzt. Es seien die mutigen Bürgerrechtler gewesen – eine Minderheit. Die Kontroverse mit dem Soziologen Detlef Pollack, der das Gegenteil behauptete, klingt dabei noch einmal an. 1990 – beseelt von Westmark und Wiedervereinigung – war die ostdeutsche Gesellschaft nach Kowalczuks Auffassung mehrheitlich unpolitisch und begegnete Demokratie und Freiheit mit Desinteresse. Eine wirklich breite Zivilgesellschaft sei nie entstanden.
Zum Audio: Interview mit Ilko-Sascha Kowalczuk
Kowalczuk mahnt eine stärkere Zivilgesellschaft an
Die Auswirkungen seien ganz konkret zu spüren, so Kowalczuk im Gespräch: "Wenn zum Beispiel ein rassistischer Überfall in einer ostdeutschen Stadt stattfindet, dann wird ganz häufig die Gegenwehr von der Zivilgesellschaft von außen in diese Stadt hineingetragen – indem Leute von außen kommen und dagegen protestieren. Weil die Vereine, die es mittlerweile überall gibt, viel zu klein sind, um sich dagegen zu wehren, und auch viel zu gefährdet. Und das ist ein großer Unterschied zu den Pendants im Westen, wo das häufig aus den Städten selbst erfolgt. Das sind Entwicklungen, die lassen sich nicht über Nacht verändern."
Den vielen Klageliedern mit Blick auf die Deutsche Einheit hält Ilko-Sascha Kowalczuk entgegen, dass man diese (die Deutsche Einheit), gemessen an der Verbesserung der Lebensbedingungen, seit einiger Zeit schon als Erfolgsgeschichte betrachten könne. Die Freiheit – den Leitbegriff seines Buches und überhaupt seiner Arbeit – versteht er derweil nicht als Selbstverständlichkeit. Freiheit sei vielmehr ein Prozess, eine stete und fordernde Aushandlung. Die Auseinandersetzung mit liberalen Freiheitstheorien, darunter von Karl Popper und John Stewart Mill, begleitet seinen Blick auf die Geschichte seit 1989.
Mehr über Freiheit reden
Man müsse immer wieder betonen, dass nur Freiheit und Demokratie in der Lage seien, Vielheit in der Einheit möglich so machen, so Kowalczuk. "Das ist das große Potenzial unseres Systems, das durch das Grundgesetz umrissen wird. Eben keine Diktatur der Mehrheit anzustreben, wie es AfD und BSW tun, sondern eine demokratische Gesellschaft, in der alle Minderheitenrechte berücksichtigt werden. Das ist der Sinn der liberalen Demokratie und der offenen Gesellschaft."
Das Bedrückende an Ilko-Sascha Kowalczuks historischem Essay "Freiheitsschock" ist die Erkenntnis, wie massiv die Ablehnung der liberalen Demokratie im Osten Deutschlands ist – und wie viel Zuspruch die These findet, man lebe heute in einer Diktatur und könne sich mit der Wahl extremistischer Parteien davon befreien.
Was all dem entgegensetzen? Ilko-Sascha Kowalczuk mahnt unter anderem einen öffentlichen Diskurs über die Freiheit an. Und er erinnert an die Verantwortung der Medien sowie an den Bildungs- und Informationsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, an die Möglichkeiten vertiefender und hintergründiger Berichterstattung. Gleichzeitig bemerkt Ilko-Sascha Kowalczuk, er habe seine "89er-Gewissheit" verloren: die Überzeugung, nie wieder Diktatur und Unfreiheit erleben zu müssen.
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