Don't Panic. Wie ein Mantra liest sich der Schriftzug auf der Mütze von Tom, der von Lars Eidinger gespielten Hauptfigur in dem Familiendrama "Sterben". Seine Eltern sind schwerkrank, seine Ex ist hochschwanger, sein bester Freund und enger Arbeitskollege macht eine tiefe Krise durch. Er selbst darf sich keinen Moment der Schwäche leisten, muss für alle da sein, muss funktionieren. Tom ist nicht nur ein vom Leben angefressener Rettungsanker wider Willen – er ist auch das Alter Ego von Regisseur und Drehbuchautor Matthias Glasner. Die Geschichte, die er in "Sterben" erzählt, ist also extrem persönlich: "Der Film wurde geboren in dem Moment, als meine Eltern gestorben sind. Innerhalb kürzester Zeit, aber nach einem langen Prozess von Leiden. Und meine erste Tochter geboren wurde. Und ich wahnsinnig übermüdet war und unglücklich."
Eigene Erlebnisse, aber kein Betroffenheitsfilm
Vieles von dem, was Glasner selbst erlebt habt, fließt in seinen Ensemblefilm ein. Anderes ist frei erfunden, oft auch tragikomisch überspitzt. Denn Glasner wollte keinen Betroffenheitsfilm machen, wie er sagt. Also handelt sein dreistündiges Drama von einer dysfunktionalen Familie, den Lunies. Der Nachname erinnert nicht von ungefähr an den englischen Begriff für "verrückt": Hier ist jeder eine Belastung für den anderen, treibt sein Umfeld langsam in den Wahnsinn.
Ein üppig blühender Neurosenstrauch
Toms Vater (Hans-Uwe Bauer) ist dement und irrt oft halb entblößt durch die Nachbarschaft. Die Mutter (Corinna Harfouch) ist herz- und krebskrank und hat ein großes Talent, andere zu verletzen. Seine Schwester (Lilith Stangenberg) ist schwere Alkoholikerin und führt ein selbstzerstörerisches Liebesleben. Auch Tom, ein leidlich erfolgreicher Dirigent, ist beziehungsgestört. Gepflanzt hat diesen üppig blühenden Neurosenstrauch die stets unzufriedene Mutter, die in unschöner Regelmäßigkeit das Selbstwertgefühl ihrer Kinder torpediert.
Wie schon in seinen vorausgegangenen Spielfilmen kombiniert Matthias Glasner Aspekte von Psychologie und Philosophie. Diesmal geht der 59-Jährige den Fragen nach, warum man so ist, wie man ist, und was es mit einer Familie macht, wenn sie mit einem quälend langen Sterbeprozess konfrontiert wird. Wenn der Vater ins Heim muss, die Mutter zunehmend die Kontrolle über ihren Körper verliert. Und wie es sein kann, dass diese einschneidenden Veränderungen kaum Mitgefühl bei den Kindern hervorrufen. Weil nun mal die gemeinsame Vergangenheit eine seelische Schieflage ausgelöst hat.
Im Video: Offizieller Trailer zu "Sterben"
Keine Scheu vor Extremsituationen
Schon oft hat Glasner Extremsituationen inszeniert, hat Filme über Pädophile oder Sexualstraftäter gedreht. Auch in "Sterben" hält er unbeirrt Momente fest, die Tabugrenzen berühren. Gleich zu Beginn sieht man Corinna Harfouch in ihrem eigenen Kot sitzen. Später wird in einer langen Einstellung der Moment gezeigt, in dem der Vater nachts allein im Heim stirbt. Nichts wird beschönigt, warum auch? Als "Sterben" im Februar während der Berlinale Premiere feierte, meinte Glasner: "Es wird immer vom Geschenk des Lebens gesprochen ... also ich weiß nicht. Da habe ich schon schönere Geschenke bekommen. Ich finde das Leben schon auch schwierig."
Schwierig könnte so mancher auch seinen Film finden. Denn einige Szenen bewegen sich an der Grenze zum Slapstick. Als Kitschvermeidungsstrategie funktioniert das gut. Man kann das aber auch als deplatziert empfinden. Doch selbst, wenn dieses wuchtige Kino-Highlight den ein oder anderen überfordert, vielleicht sogar verärgern sollte: Kalt lassen wird dieser Film niemanden.
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