Dass er seiner Zeit voraus war, wird von Johannes Mario Simmel (1924 - 2009) wohl niemand behaupten, und das dürfte der Hauptgrund dafür sein, dass der einstige Erfolgsschriftsteller zu seinem 100. Geburtstag am 7. April kaum noch gelesen wird. Seine in den sechziger und siebziger Jahren viel verkauften Romane ("Es muss nicht immer Kaviar sein", "Und Jimmy ging zum Regenbogen", "Hurra wir leben noch") waren typische Zeitgeist-Literatur, melodramatische, mitunter auch sentimentale Beschreibungen einer Nachkriegsgesellschaft im Aufbruch.
Das galt als unterhaltsam, wirkt aus heutiger Sicht jedoch ähnlich überholt wie Werke der einstigen Bestseller-Autoren Karl May ("Winnetou"), Heinz-Günther Konsalik ("Liebesnächte in der Taiga"), Eric Malpass ("Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung") und Heinrich Böll ("Ansichten eines Clowns").
"Dick aufgetragen, plakativ, derb"
Eine Umfrage unter den Kunden einer Münchner Buchhandlung bestätigt: Jüngere Leser haben keine Ahnung, wer dieser Simmel eigentlich war. Ältere können sich zwar erinnern, haben jedoch teilweise ein schlechtes Gewissen: "Das hat meine Oma immer gelesen, und meine Mama sagte, das sei Schund."
Damals nämlich galt Simmel als erfolgreich, aber "trivial" – also seicht, was so nicht ganz stimmt, wie die Schweizer Simmel-Biografin Claudia Graf-Grossmann dem BR sagte: "Sein Schreibstil ist nicht mehr so, wie man heute schreiben würde. Das ist nicht politisch korrekt, und über sein Frauenbild kann man auch lächeln. Insofern kann man sagen, die Schreibe ist dick aufgetragen, plakativ, auch derb, aber als trivial würde ich ihn nicht bezeichnen."
Das Einzige, was an Simmel bis heute absolut zeitgemäß ist: die auffällige, sofort wieder erkennbare Gestaltung der Umschläge. Grafiker Fritz Blankenhorn (1921 - 2011) wählte grelle Farben und den ganz dicken, schwungvoll geführten Pinsel. Außer den seitenfüllenden Romantiteln auf weißem Grund war keine weitere Illustration nötig.
Genial war Simmels Gespür für aktuelle Themen, so seine Biografin: "Er hat es wirklich hinbekommen, dass die Romane genau dann erschienen sind, wenn sie wirklich topaktuell waren. Das erforderte oft einen Planungsvorlauf von zwei bis drei Jahren im Voraus."
"Pikanter" Briefwechsel mit Marlene Dietrich
Der Nachlass von Simmel liegt übrigens in Boston und soll laut testamentarischer Verfügung bis 2079 unter Verschluss bleiben. Claudia Graf-Grossman war daher auf andere Selbstzeugnisse und Interviews mit Weggefährten und Freunden von Simmel angewiesen. Was erwartet sie von der Öffnung des Nachlasses? "Das Pikanteste - in Anführungsstrichen - ist im Nachlass vermutlich der Briefwechsel mit Marlene Dietrich. Das hat Simmel immer betont, dass er nicht möchte, dass der in falsche Hände gerät. Aus heutiger Sicht, mit den heutigen Moralvorstellungen, kann man darüber schmunzeln. Ich weiß nicht, ob er wirklich so anrüchig ist, aber zumindest hat er das so erzählt."
Graf-Grossmann empfiehlt zur Wiederentdeckung des gebürtigen Wieners Simmel wahlweise die Ost-West-Agenten-Satire "Es muss nicht immer Kaviar sein" oder den autobiografisch gefärbten Roman "Und Jimmy ging zum Regenbogen" über den "Anschluss" Österreichs an NS-Deutschland und die damit verbundene politisch belastete Nachkriegszeit. Von der grellen österreichischen Aufsteiger-Satire "Hurra, wir leben noch" rät sie dagegen eher ab.
Remarque ist immer noch angesagt
Die Frage, was Romane über viele Jahrzehnte "haltbar" macht, lässt sich natürlich nicht pauschal beantworten. Gleichwohl ist zu beobachten: Zeitgeist-Autoren, die in ihrer jeweiligen Gegenwart als angesagt gelten und viel diskutiert werden, sind in der Regel schnell "vergessen". Ein Schicksal, das Günter Grass ebenso droht wie Siegfried Lenz und Martin Walser, den wegweisenden literarischen Heroen der Nachkriegszeit.
Dagegen gilt Erich-Maria Remarque (1898 - 1970) international nach wie vor als lesenswerter Autor, nicht nur wegen der mehrfachen, mit Oscars gewürdigten Verfilmung von "Im Westen nichts Neues". Remarque berichtet in seinen einst hoch umstrittenen Büchern anders als der zur Ironie neigende Simmel vergleichsweise kühl beobachtend von Krieg, Flucht und Vertreibung. Remarques schmuckloser, wahrhaftiger Reportage-Stil wird bis heute überall auf der Welt verstanden und geschätzt, was für Simmels blumige Ausdrucksweise weniger gilt.
Deutsche Leser lieben Schwermut
Von immerwährender Aktualität scheinen - durchaus überraschend - auch die Bücher von Hans Fallada ("Kleiner Mann - was nun?"), weil er quasi beiläufig davon erzählt, wie hilflos der einzelne Mensch der "Konjunktur" ausgeliefert ist, und zwar im umfassenden Sinne, degradiert zu einem mal mehr, mal weniger gefragten Objekt am Arbeitsmarkt.
Zum gern gelesenen Klassiker wurde darüber hinaus Theodor Fontane ("Effi Briest"), weil er mit seiner herzerwärmenden Melancholie an der Schwelle zur Moderne beeindruckt, aber auch der zu Lebzeiten mäßig erfolgreiche Eduard von Keyserling (1855 - 1918), der mit seiner "heiteren" und gelassenen Schwermut derzeit überraschend angesagt ist ("Wellen"). Überhaupt scheinen deutsche Leser ein Faible für wehmütige, nach innen gerichtete Perspektiven zu haben, weit jenseits der Tagesaktualität.
Visionäre Werke oder "der Zeit voraus"
In die sprichwörtliche Weltliteratur schaffen es ohnehin nur wenige "geniale" Schriftsteller, entweder mit ihrer poetischen Kraft und unvergänglichen Deutungsversuchen der menschlichen Existenz, wie Dante, Shakespeare, Molière, Goethe und Puschkin, oder mit visionären Werken, die weit über die Gegenwart hinausweisen.
Ihrer Zeit deutlich voraus waren zu ihrem Leidwesen etwa Michail Bulgakow ("Meister und Margarita"), Herman Melville ("Moby Dick"), Robert Musil ("Mann ohne Eigenschaften"), Jakob Michael Reinhold Lenz ("Die Soldaten") und Friedrich Hölderlin ("Hyperion"). Sie alle wurden von der Kritik zu Lebzeiten als Außenseiter abgestempelt, ja für "verrückt" erklärt.
Claudia Graf-Grossmann: "Mich wundert, dass ich so fröhlich bin" - Johannes Mario Simmel – die Biografie, Droemer Knaur-Verlag, 28 Euro.
Dieser Artikel ist erstmals am 7.04.2024 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!