Die "Exklusivmeldung" von Reuters gibt sich in der Schlagzeile spektakulär [externer Link]: "Putin will Waffenstillstand entlang der aktuellen Frontlinie in der Ukraine" heißt es da. Im Text ist unter Berufung auf hochrangige Gesprächspartner im Kreml zu lesen, Putin könne zwar "so lange kämpfen, wie es nötig" sei, er sei aber auch bereit, die Waffen schweigen zu lassen.
Reuters will mit insgesamt fünf Personen, die "auf hoher Ebene in Politik und Wirtschaft mit Putin zusammenarbeiten oder zusammengearbeitet haben" gesprochen haben. Alle hätten sich wegen der "Brisanz" des Themas nur anonym geäußert.
Im kleinsten Beraterkreis habe sich Putin "frustriert" darüber geäußert, dass der Westen Verhandlungen weiter "blockiere": "Auf eine Bitte um Stellungnahme antwortete Putins Sprecher Dmitri Peskow, der Kremlchef habe wiederholt klargestellt, dass Russland zur Erreichung seiner Ziele zu einem Dialog bereit sei, und dass das Land keinen 'ewigen Krieg' wolle", so Reuters.
Putin: "Wir sind für Verhandlungen"
Putin selbst wiederholte bei einem Besuch im belarussischen Minsk seine bekannte Position, wonach Russland die Verhandlungen von sich aus nie abgebrochen habe [externer Link]: "Wir haben es niemandem verboten, wir sind für Verhandlungen." Allerdings müsse auf Grundlage der "heutigen Realitäten vor Ort" geredet werden, was allgemein so interpretiert wird, dass Russland die besetzten Gebiete nicht räumen will, auch nicht teilweise.
Putin versuchte, die "Legitimität" von Selenskyj in Frage zu stellen, weil dessen Amtszeit abgelaufen sei. Die Ukraine müsse daher klären, wer derzeit legitimiert sei, für sie verbindliche Absprachen zu treffen: "Natürlich müssen wir das tun, wenn es dazu kommt, und ich gehe davon aus, dass die Friedensverhandlungen wieder aufgenommen werden müssen, und zwar nicht mit Hilfe von Ultimaten, sondern mit Hilfe des gesunden Menschenverstandes und auf der Grundlage des gesunden Menschenverstandes."
"Schuldzuweisung an Ukraine sehr gut"
Doch die Begeisterung über das "koreanische Szenario" hält sich bei russischen Beobachtern in Grenzen. Womöglich wolle Putin mit solchen lancierten Meldungen nur die große Ukraine-Konferenz in der Schweiz stören, die für Mitte Juni anberaumt ist. Russland ist dort nicht eingeladen und zeigte sich entrüstet, dass angebliche "Verbündete" wie Indien und China dort trotzdem mitreden wollen.
Der nationalistische Politologe Oleh Zarjow meinte, Verhandlungen lägen irgendwie "ständig in der Luft", als ob beide Seiten die Öffentlichkeit darauf vorbereiten wollten [externer Link]. Er sieht propagandistische Vorteile für den Kreml: "Übrigens ist die Tatsache, dass die Schuld für den immer noch andauernden Krieg Selenskyj und der Ukraine zugeschoben wird und nicht Russland, sehr gut. Vor dem Hintergrund, dass Putin ständig von der Möglichkeit von Verhandlungen spricht, erscheint Selenskyj mit seiner Position völlig überfordert, vor dem Hintergrund des Versagens der Streitkräfte der Ukraine an der Front." Zarjow mutmaßte, die Gespräche seien hinter den Kulissen "nie gestoppt" worden, aber ob sie in "naher Zukunft" mit einer Verständigung endeten, sei völlig offen.
"Ungefähr klar, wie alles ausgehen wird"
"Nun, es ist schon lange ungefähr klar, wie alles ausgehen wird, wenn es nicht zu einer radikalen Kursänderung kommt", heißt es von einem der wichtigen russischen Polit-Blogger [externer Link]: "Natürlich nicht durch die Einnahme der [ukrainischen Großstadt] Charkow, wie die chauvinistischen Patrioten schreien. Trotz des Fehlens wirklich großer Erfolge während der Feindseligkeiten (Russland kontrollierte die Krim und den Donbass schon vorher) wird ein Frieden oder ein Waffenstillstand zweifellos als Sieg verkauft werden. Ja, in der Tat spielt es gar keine Rolle, wie es der Kreml darstellt - es ist Zeit, diesen Horror zum Abschluss zu bringen und zu beenden."
"Der Westen wird Zeit bekommen"
Kolumnist Sergei Mirkin schrieb in einem russischen News-Portal deutlich weniger verständigungsbereit: "Man hört oft, dass jeder Krieg in Verhandlungen endet. Die Frage ist: Warum sollten diese Verhandlungen von einem Waffenstillstand begleitet werden? Schließlich hat derjenige, dessen Armee auf dem Schlachtfeld Vorteile hat, diese auch am Verhandlungstisch." Er wiederholte die bekannte Kreml-Propaganda: "Der Westen wird Zeit bekommen, die Produktion von Munition und Ausrüstung in großen Mengen zu organisieren. Und dann müssen wir erneut kämpfen, aber unter schlechteren Bedingungen."
"In naher Zukunft keine Verhandlungen"
Kreml-Propagandist Sergei Markow, der stets sehr flexibel auf das Meinungsklima reagiert, fragte sich, was die "Bedingungen" eines Waffenstillstands sein könnten [externer Link]. Es sei höchste Zeit, diese konkret zu benennen: "Der Westen möchte allen, auch Russland selbst, aufzwingen, dass Russland ein imperialistisches Raubtier und an den Gebieten der Ukraine interessiert sei. Russland muss demgegenüber seine Ansicht verteidigen, wonach wir unser Land schützen. Deshalb ist die Sicherheit vor dem Territorium der Ukraine für uns das Wichtigste. Entnazifizierung, Entmilitarisierung, Demokratisierung der Ukraine."
Ungeachtet der Reuters-Meldung werde es "in naher Zukunft keine ernsthaften Verhandlungen geben", ist sich ein weiterer russischer Polit-Kommentator sicher. Alle Spekulationen über angeblich drohende Massenproteste in Russland seien haltlos, Putin könne durchaus eine weitere Teilmobilisierung ankündigen: "Zuerst wird es eine Offensive geben, und dann werden wir über Friedensinitiativen sprechen, so die Meinung in den Kreisen der Militärexperten. Russland wird erst aus einer Position der Stärke heraus reden." Putin sei allerdings an einem "kontrollierten" Konflikt in der Ukraine interessiert und wolle sich auf innenpolitische Probleme konzentrieren, auch, um die russischen Eliten bei Laune zu halten.
"Wird kein gutes Ende nehmen"
Die stetig zunehmenden Angriffe ukrainischer Drohnen im russischen Hinterland, auch mehrere hundert Kilometer hinter der Front, könnten fatale Auswirkungen auf die Moral haben, argumentiert einer der russischen Beobachter: "Wenn sich dieser Trend fortsetzt, wird das für die öffentliche Meinung kein gutes Ende nehmen. Darüber hinaus muss man berücksichtigen, dass die stetigen Erfolge beim Vormarsch der russischen Armee, über die die Medien jeden Tag ausführlich berichten, das Thema Drohnenangriffe teilweise überlagern, aber wenn die Offensive langsamer wird oder ganz zum Halten kommt, werden die Drohnenangriffe beginnen, die tägliche Nachrichtenlage zu dominieren."
"Aktueller Konflikt ist eine Anomalie"
Der russische Exil-Blogger Anatolij Nesmijan kann sich nicht so recht vorstellen, dass Putin eine weitere Mobilisierung anordnet [externer Link]. Es fehle schlicht an der nötigen militärischen Infrastruktur: "Der aktuelle Konflikt nach den Regeln des Ersten Weltkriegs ist eine Anomalie, da Kämpfe im 21. Jahrhundert im Stil des 20. Jahrhunderts Unsinn sind. Daher gibt es nicht den geringsten Grund, etwas zu wiederholen, das niemals wieder angesagt sein wird. Das schließt eine Mobilisierung als 'Verzweiflungstat' oder ein neues Abenteuer des Top-Managements nicht aus, aber solange das bestehende [freiwillige] Rekrutierungssystem gegen Geld funktioniert, wird es höchstwahrscheinlich bis zum Ende angewandt."
Russische Leser sind sich nicht einig, was einen möglichen Waffenstillstand auf den jetzt erreichten Linien betrifft. Die einen spotten, das sehe nicht gerade nach einer "Siegerpose" aus, die anderen fordern kategorisch eine "militärische Lösung". "Sollen wir die Verfassung noch mal umschreiben?", fragte einer der Diskutanten mit Verweis darauf, dass Putin ukrainische Regionen per "Volksabstimmung" annektieren ließ. Wer seit Monaten in einem Schützengraben sitze, der werde die Hoffnung auf einen Waffenstillstand vermutlich anders beurteilen als die nationalistischen Kriegsblogger, gab jemand zu bedenken.
"Schwer zu sagen, wie alles endet"
Dimitri Drise, der Kolumnist des Wirtschaftsblatts "Kommersant", hält sich alles offen: "Es ist davon auszugehen, dass tatsächlich eine Art großer Deal zwischen der westlichen Welt und dem globalen Süden vorbereitet wird. Es geht darum, die Kämpfe zu beenden und dann Verhandlungen aufzunehmen. Das passt weder zu Russland noch zur Ukraine, ist aber für alle anderen Teilnehmer der Aktion von Vorteil. Sie haben offensichtlich genug davon und wollen eine Pause machen."
Als Indiz für ein gewisses "Durcheinander" im eigenen Land nannte Drise das Aufsehen um eine angeblich vom russischen Verteidigungsministerium geplante neue Grenzziehung in der Ostsee. Ein Thema, das vom Kreml schnell wieder als "Missverständnis" abgeräumt wurde.
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