Als Euthanasie, also "schönen Tod" bezeichneten die Nazis die systematische Ermordung von geistig- und körperlich behinderten Menschen – ein zynischer Begriff für den grausamen Massenmord von über 200.000 Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Behinderungen vor rund 85 Jahren. Das Kloster Irsee war einer der Orte in Bayern, wo rund 1.000 Personen zwischen 1933 und 1945 umgebracht wurden. Die frühere Abtei ist heute ein Bildungszentrum – und hat jetzt einen neuen Informationsraum.
Hungerkost, Überdosis: Patienten systematisch getötet
Es ist das dunkelste Kapitel in der über 800-jährigen Geschichte des Klosters Irsee, die von der früheren Benediktinerabtei bis zur Psychiatrie reicht. 1849 wurde nahe Kaufbeuren die erste "Kreis-Irrenanstalt" eröffnet, in der Zeit des Nationalsozialismus war dort eine vermeintliche Heil- und Pflegeanstalt untergebracht.
Mehr als 1.000 geistig und körperlich behinderte Menschen fanden dort in dieser Zeit im ehemaligen Kloster einen gewaltsamen Tod. Anfangs wurden sie in Vernichtungsanstalten deportiert und dort vergast. Später wurden die Patienten direkt in der Anstalt mit überdosierten Medikamenten tot gespritzt oder gezielt einer Hungerkost ausgesetzt, an deren Ende sie völlig entkräftet starben.
Patientenmorde sind Teil der Geschichte der Psychiatrie
Mord durch Medikamente oder Vernachlässigung und Hunger war das Tagesgeschäft in Irsee ab 1942, erklärt die Historikerin Magdalene Heuvelmann: "Die barmherzigen Schwestern, die hier vor Ort als Pflegepersonal für die Frauenabteilung zuständig waren und für die Hauswirtschaft zuständig waren, die haben versucht dagegen zu protestieren, konnten sich aber in dem Sinne nicht durchsetzen."
Die Geschichte der Psychiatrie in Irsee für die Besucher aufzuarbeiten – das war der Auftrag an Historikerin Heuvelmann. Dabei ging es nicht nur um die Zeit des Nationalsozialismus: "Mir ist es eben wichtig, dass die Patientenmorde in die gesamte Psychiatrie-Geschichte eingeordnet werden, weil sie immanenter Bestandteil der Psychiatrie-Geschichte sind."
Das Totenregister der Anstalt, Auszüge aus Krankenakten und Zeitzeugenberichte: Damit dokumentiert der neue Ausstellungsraum das Grauen, das sich in Irsee abgespielt hat. Eine eigens gestaltete Handy-App liefert den Besuchern zusätzlich umfassende Informationen zu der Geschichte der Psychiatrie in Irsee.
Systematisches Morden, systematisches Vertuschen
Einer der Gedenkorte in Irsee ist die Prosektur zwischen der Klosterkirche und dem früheren Anstaltsfriedhof. Von außen sieht das Gebäude wie eine kleine Kapelle aus, anstelle des Altars steht allerdings ein Seziertisch. Dort wurden die Toten der Anstalt seziert – und für die Euthanasie-Opfer gefälschte Totenscheine ausgestellt, um das organisierte Morden zu vertuschen. Stefan Raueiser schildert, dass der Ort viele Menschen sehr bewegt: "Menschen mit Angehörigen, die heute mit psychischen Erkrankungen oder Behinderungen leben müssen, dass sie sich sofort fragen: Was wäre damals gewesen? Wie wäre man damals mit meinen Liebsten umgegangen?"
Der Umgang mit dem schweren historischen Erbe der früheren Anstalt Irsee (externer Link) ist für Stefan Raueiser immer wieder eine Herausforderung. Dem Leiter des schwäbischen Bildungszentrums ist das Erinnern daher ein großes Anliegen, damit die Gräueltaten der Nazis nie in Vergessenheit geraten. Neben dem Gedenken an die Opfer von früher und der psychiatrischen Weiterbildung von heute gehe es auch darum, Haltung zu entwickeln: "Dass sich so etwas nie wieder wiederholen darf."
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