August 1940: Das Tempo, mit dem die Deutschen vorrücken, ist unfassbar, die Flüchtlinge werden davon genauso überrascht wie die französischen Truppen. Viele fliehen letztlich zu Fuß aus Paris. Sie wollen zu den Häfen, nach Marseille, die größte Stadt in der unbesetzten Zone, nah an Spanien, fern von den Nazis. Von Marseille aus wollen sie Europa verlassen, doch dazu brauchen sie vor allem: Papiere. Ausreise-, Einreise- und Transit-Visa und: Geld, für die Schiffspassage, für Hotels, für Essen.
Varian Fry, der US-amerikanische Fluchthelfer
Papiere und Geld: Das ist es, was der junge Amerikaner Varian Fry bieten kann, ein junger Intellektueller, der in New York das Emergency Rescue Committee gründet und selbst nach Frankreich reist, um den Verfolgten zu helfen. Fry ist die Schlüsselfigur dieser Geschichte. Was Uwe Wittstock an dem Amerikaner so beeindruckt hat, war, "dass es für ihn gar keinen Anlass, keinen Grund gab, sich in Gefahr zu bringen. Der lebte gut in New York und hörte halt, es gibt in Südfrankreich Menschen, die vor den Nazis fliehen und aus dem Land nicht rauskommen und darunter sind viele berühmte Schriftsteller und Künstler und der daraufhin eine Hilfsorganisation aufbaut und das Risiko für sich persönlich eingeht nach Südfrankreich zu gehen und die da rauszuholen."
Zum Artikel: "Transatlantic" - Serie über die Flucht vor den Nazis
Enthusiast der Avantgarde
Das Risiko für Varian Fry war hoch: Wenn die Deutschen sein als Hilfsorganisation getarntes Fluchtsystem entlarvt hätten, hätten sie sicher kurzen Prozess mit ihm gemacht. Frys Motivation ist die Literatur: Er ist ein Enthusiast der Avantgarde, die europäischen Schriftsteller seiner Zeit sind für ihn Helden der Zivilisation, der Kultur. Fry ist ein kompromissloser Idealist, seine unnachgiebige Art macht es ihm nicht immer leicht, der Streit mit den amerikanischen Geldgebern wird zur bizarren, hochemotionalen Nebenerzählung.
Dazu sei gekommen, dass das amerikanische Außenministerium überhaupt kein Interesse daran hatte politisch aktive, von den Nazis verfolgte Schriftsteller nach Amerika zu holen, so Wittstock. Auch in Amerika habe es eine gewisse Zurückhaltung Juden gegenüber gegeben: "Es war nicht so, dass die mit offenen Armen empfangen wurden, das kennen wir ja aus heutigen Zeiten, man hat lieber keine Flüchtlinge, die ins Land strömen".
Auf Schmugglerpfaden durch die Pyrenäen
Fry ist auf Unterstützung aus New York angewiesen, die Fluchthilfe verschlingt enorme Summen. Einmal kaufen sie ein ganzes Schiff, doch auf dem Seeweg scheitern sie. Mehr Erfolg haben sie auf verborgenen Wegen durch die Pyrenäen. Mehrmals pro Woche schickt Fry kleine Gruppen von Flüchtlingen an die Grenze zu Spanien. Dort werden sie von Lisa und Hans Fittko auf kleinen Schmugglerpfaden herübergebracht. Die beiden setzen dabei ihr Leben aufs Spiel, aber sie kehren immer wieder zurück, um weiter zu helfen.
Am Ende werden Fry und seine Mitstreiter 2.000 Menschen zur Flucht verholfen haben: Literaten, Lektoren, Malern, Politikern. Doch die Würdigung seiner Taten ist mau, es gibt nicht einmal eine deutschsprachige Biografie über Varian Fry. Wittstock ist sehr verwundert, dass diese Geschichte von Varian Fry so lange brach lag: Dass man einen Journalisten und Fluchthelfer, der so wichtige Künstler und Schriftsteller wie Heinrich Mann, Hannah Arendt aus Frankreich herausgeholt hat, nicht stärker gewürdigt habe. Heinrich Mann erwähnt seinen Lebensretter in seinen Ausführungen zu den Geschehnissen nicht einmal.
Nach dem Krieg: Werbetexter bei Coca-Cola
Fry findet nach dem Krieg nie wieder eine anständige Anstellung als Journalist, er wird Werbetexter für Coca-Cola. Erst 1994 verlieh ihm die Gedenkstätte Yad Vashem den Titel "Gerechter unter den Völkern". Doch auch "Marseille 1940" ist keine ausführliche Biographie über Varian Fry.
Uwe Wittstock erzählt vielmehr die Geschichte einer Massenflucht. Und wie er sie erzählt! Es ist fast makaber, wie spannend dieses Buch ist und wie gern man es liest. Die Arbeit des Rettungskomitees ist größtenteils Papierarbeit, aber Wittstock reiht eine filmreife Szene an die andere: Lion Feuchtwangers Name steht auf den Fahndungslisten der Nazis ganz oben. Im Internierungslager geht er durch die Hölle: Dreck, Ungeziefer, Schlafsäcke aus Stroh, Hunger, Wassermangel, Krankheiten. Abgemagert und als Oma verkleidet entkommt er schließlich im Auto eines amerikanischen Diplomaten und später zu Fuß über die spanische Grenze.
Wie Anna Seghers sich und ihre Kinder rettete
Wittstock muss nichts dramatisieren, die Dramen sind real. Besonders anrührend die Geschichte von Anna Seghers. Sie hat ihre Kinder bei sich. Nach sieben Tagen und Nächten zu Fuß auf der Flucht, machen sie in einer verlassenen Bauershütte Rast, als plötzlich Soldaten der Wehrmacht an die Tür hämmern. Selbst wenn man weiß, dass Anna Seghers überlebt hat, bleibt einem beim Lesen das Herz stehen. In Panik verbrennt sie ihre Papiere, schärft den Kindern ein, kein einziges deutsches Wort von sich zu geben, öffnet die Tür und tut so als verstünde sie die Deutschen nicht.
Das habe für sie eine ganz entsetzliche Situation gewesen sein müssen, weil sie war nicht nur Kommunistin, sondern sie war auch Jüdin, so Wittstock. "Wenn die Deutschen sie geschnappt und als Jüdin erkannt hätten, wäre das nicht nur für sie, sondern das wäre auch für die beiden Kinder das Todesurteil gewesen. In dieser Situation vor ganzen Truppenbewegungen der Deutschen und sehr schnellen Panzerkommandos zu fliehen, das ist eine unglaubliche nervliche Anstrengung gewesen. Und ich bewundre sie, wie sie das geschafft hat, ihre gesamte Familie aus Frankreich heil herauszuholen."
"Marseille 1940" ist ein erstaunliches Buch, eine absolute Lese-Empfehlung, und das gilt nicht nur für Literatur-Experten. Man muss die Werke der Betroffenen nicht kennen, um die Geschichte ihrer Flucht zu verfolgen. "Marseille 1940" ist ein Buch über Angst, Hoffnung und Mitmenschlichkeit, über Strategien der Selbsterhaltung und politische Überzeugungen, und vor allem: über das nackte Überleben.
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