Wie kann sich eine 36-jährige Frau auf eine Affäre mit einem Siebtklässler einlassen? Diese Frage stellt sich nicht nur der Ex-Mann von Gracie. Vor über 20 Jahren musste Gracie wegen sexueller Handlungen mit einem 13-Jährigen ins Gefängnis. Das erste Kind des ungleichen Paares kam hinter Gittern zur Welt, es folgten zwei weitere und eine Ehe, die bis zum heutigen Tag zärtlich und harmonisch wirkt.
Scheinbare Idylle in Savannah, Georgia
Auf ihrem Anwesen im beschaulichen Savannah in Georgia, finanziert mit dem Verkauf von Hochzeitsfotos an die Boulevardpresse, veranstalten sie gern Barbecues für Freunde. Zu einem solchen Fest ist auch Elizabeth Barry eingeladen. Die Hollywood-Schauspielerin möchte Gracie in einem Independentfilm verkörpern – und nutzt die Gelegenheit, um mehr über diese stets freundlich lächelnde Frau zu erfahren, die mit knapp 60 noch immer mädchenhafte Kleider mit Blumen und Rüschen trägt.
Dunkle Abgründe im Kleinbürger-Idyll: US-Regisseur Todd Haynes bewegt sich in "May December" auf bekanntem Terrain und bringt wie so oft in seinen Filmen scheinbar perfekte Fassaden zum Einstürzen. Sein Film basiert lose auf dem wahren Fall der amerikanischen Lehrerin Mary Kay LeTourneau, einer verheirateten Mutter von vier Kindern, die in den 90er-Jahren ihren damals zwölfjährigen Schüler Vili Fualaau verführt hat. Julianne Moore, die bereits zum fünften Mal für Haynes vor der Kamera steht, spielt diesmal keine Hausfrau am Rande des Nervenzusammenbruchs, sondern eine schwer durchschaubare Vorstadtschönheit.
Gracie: Eine Meisterin im Manipulieren
Obwohl Gracie als Sexualstraftäterin verurteilt wurde, wird sie von ihrem Umfeld als Frau akzeptiert, die Opfer ihrer nonkonformen Gefühle wurde. Je länger die von Natalie Portman gespielte Elizabeth ihr Rollenvorbild beobachtet, desto überzeugter ist sie: Gracie ist die weit bessere Schauspielerin.
Ihr naives Auftreten und das kindliche Lispeln passen zum zartrosa Make-up, ob oberflächlich oder tiefenpsychologisch – diese Frau weiß ganz genau, wie man andere manipuliert. Die eigene Teenagertochter dazu zu bringen, statt des selbst gewählten, ein Kleid zu kaufen, das der Mutter gefällt, gehört zu ihren harmloseren Kunststücken: "Oh Mary", sagt sie zu ihrer Tochter. "Ich bewundere dich für deinen Mut, deine Arme so offen zu zeigen. Das hätte ich mir so gewünscht, als ich so alt war wie du. Diese weltfernen Schönheitsideale einfach ignorieren zu können ..."
Psychoduell mit Hitchcock-Suspense
Während Gracie konstant daran arbeitet, ihre Vergangenheit zu begraben, wühlt Elizabeth immer tiefer im Dreck. Todd Haynes inszeniert dieses Gegeneinander wie ein Psychoduell, das Hitchcock-Suspense entfaltet. Stets im Raum steht die Frage: Wer überschreitet wann welche Grenzen, um die eigenen Ziele umzusetzen? Vor allem aber zitiert der Regisseur inhaltlich wie optisch immer wieder Ingmar Bergmans Identitätsdrama "Persona". Hier wie dort entwickelt sich zwischen zwei Frauen eine unheilvolle Symbiose, wird aus Faszination Obsession: Elizabeth beginnt, Gracie zu imitieren, adaptiert ihre Gesten, ihren Sprachfehler, ihr manipulatives Verhalten – und testet die Wirkung dieser Eigenschaften, die weit über das Rollenstudium hinausgehen, an Gracies Ehemann Joe.
Auch wenn die Luft im frühsommerlichen Savannah flirrt, das soziale Klima ist klinisch kühl. Zugegeben: Manche Kontraste und Metaphern in "May December" sind ein wenig zu offensichtlich. Wer aber ein Starensemble auf der Höhe seiner Kunst sehen will, dürfte an dieser komplexen Charakterstudie über Selbstdarstellung und öffentliche Wahrnehmung große Freude haben.
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