"Je unvorbereiteter man in eine Situation gerät, in der alle auf einen schauen, vielleicht auch aufschauen, einen bewundern, umso gravierender können die Schattenseiten sein", sagt Dr. Oliver Pogarell, Professor für Psychiatrie und Psychotherapie am LMU Klinikum München. Und unvorbereitet trifft es tatsächlich meistens diejenigen Popstars, die schon als Teenager oder als junge Erwachsene berühmt werden. So wie die amerikanische Sängerin und Songschreiberin Chappell Roan.
Übergriffiges Verhalten nicht okay
Mit Mitte 20 hat Chappell Roan dieses Jahr einen kometenhaften Aufstieg zum Superstar erlebt. Ein Erfolg, auf den sie eigentlich stolz war, bis sie gemerkt hat, dass sie zunehmend Angst hatte, das Haus zu verlassen. Mit einer Reihe von TikTok-Videos richtete sie sich – hörbar aufgebracht – direkt an ihre Fans: "Es ist mir egal, dass wir es offenbar normal finden, dass berühmte Leute belästigt und gestalkt werden", sagt sie in einem der Videos. "Deswegen ist es noch lange nicht okay. Mir ist scheißegal, ob ihr es egoistisch findet, wenn ich keine Zeit für euch habe oder Nein sage zu einem Foto oder einer Umarmung."
Nein sagen: Chapell Roans' Statements fanden viel Beachtung. Vielleicht war die Zeit reif – schließlich sprechen seit einigen Jahren immer mehr berühmte Musikerinnen und Musiker über den immensen Druck, der von fanatischen Fans ausgehen kann. Auch Tokio-Hotel-Sänger Bill Kaulitz hat die Erfahrung gemacht, als Teenager Weltstar zu werden. "Ich hatte immer so viel Druck von unseren alten Managern und der Plattenfirma und ich hatte einfach immer nur Angst", erzählt er im WDR-Podcast "Danke, gut". Er hätte deshalb nichts mehr zu geben oder zu sagen gehabt und den ganzen Tag nur noch versucht, bloß nicht aufzufallen oder was zu sagen, wofür er Ärger bekommen hätte können. "Also all diese Dinge, die mich eigentlich ausgemacht haben auch als Künstler: anders zu sein, rebellisch zu sein und anzuecken, das habe ich irgendwann total verloren."
Gefahr von Depressionen
Wie es im schlimmsten Fall enden kann, zeigen immer wieder Todesfälle – zum Beispiel der des schwedischen Superstar-DJs Avicii. Und auch das ehemalige One-Direction-Mitglied Liam Payne hatte in Interviews darüber gesprochen, wie unglücklich ihn das Leben als Superstar gemacht hat. Verwirrt von Alkohol und Antidepressiva ist Payne im Oktober bei einem Sturz vom Balkon seines Hotels tödlich verunglückt.
Vor allem, wenn der Zustand des Berühmtseins über Jahre anhält, kann die Psyche enorm unter Druck geraten, sagt Prof. Pogarell: "Ständig unter öffentlicher Kontrolle zu stehen, ständig diese Anspannung zu verspüren, das Niveau zu halten, gut zu sein: Das kann einen Risikofaktor darstellen für die Entwicklung von Belastungssymptomen." Das könne im weiteren Verlauf durchaus zu psychischen Störungen führen, "dass man ein Problem mit Alkohol bekommt oder mit beruhigenden Substanzen, dass sich Ängste entwickeln, aus denen man dann nicht mehr herausfindet, oder dass sich eine Depression entwickelt."
Managements mittlerweile sensibilisiert
Das Problem ist bei dem Management von Künstlern schon lange bekannt – auch, wenn hier bisweilen ein Interessenskonflikt besteht. Mehr Präsenz ihrer Artists bringt schließlich auch mehr Geld. Trotzdem achtet etwa Johanna Herzer-Santana von der Agentur Wasted-Talent auf die mentale Gesundheit ihrer Stars. Sie arbeitet mit Acts wie Ennio und Milky Chance. "So hart, wie es klingt", erklärt Herzer-Santana, "die Musik und der Künstler sind auch das Produkt, und das muss happy sein und funktionieren. In dem Fall ist es für uns Managements umso wichtiger, zu gucken, dass es dem Künstler gut geht."
Können wir als Gesellschaft einen sensibleren Umgang mit Stars lernen? Kann eine neue Generation von Celebritys ihre Fans vielleicht sogar umerziehen? Chappell Roan hat den Versuch unternommen – und damit zumindest eine lebhafte Diskussion ausgelöst. Und ihre Fans hat sie auf ihre ganz eigene Art an eine grundlegende Wahrheit erinnert: dass wir – berühmt oder nicht berühmt – Respekt verdienen. Wir alle sind doch nur "ganz normale" Menschen, wie sie in einem weiteren Video sagt.
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