Das offizielle Russland ist offenbar hin- und hergerissen: Vier Tage soll der Kongress zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant ab dem 22. April in Königsberg unter dem Titel "Weltbegriff der Philosophie" dauern, der russische Präsident Wladimir Putin kündigte ein Grußwort an. Hunderte von Wissenschaftlern reisen an, auch einige deutsche Kant-Experten sind im Programm aufgeführt, darunter zwei im akademischen Ruhestand befindliche Vorstandsmitglieder der Kant-Gesellschaft. Zum Auftakt soll es um Kant und die Künstliche Intelligenz gehen. Selbstverständlich werden an Kants Grab Kränze niedergelegt, ein Orgelkonzert mit Lasershow soll den ersten Tag der Konferenz beschließen.
Gleichzeitig wird der Philosoph in Russland angefeindet: "Heute, im Jahr 2024, haben wir den Mut zu behaupten, dass nicht nur der Erste Weltkrieg mit dem Werk Immanuel Kants begann, sondern auch der aktuelle Konflikt in der Ukraine mit ihm seinen Anfang nahm", sagte der Gouverneur von Kaliningrad, Anton Alichanow, beim diesjährigen Kongress der Russischen Gesellschaft der Politikwissenschaftler in Swetlogorsk (dem früheren ostpreußischen Seebad Rauschen) und hatte damit im Februar eine bemerkenswerte Kontroverse ausgelöst.
Kant (1724 - 1804) habe einen "direkten Bezug zum weltweiten Chaos und der globalen Neuordnung". Mit seinen 37 Jahren gehört Alichanow zu den jüngsten Führungskräften der Kreml-Elite. Er bezog sich bei seinen Ausführungen auf eine folgenreiche Rede des georgischen Philosophen Wladimir Ern (1882 - 1917) vom 6. Oktober 1914 unter dem Titel "Von Kant zu Krupp".
"Plötzlich blutrünstige Raubtierklauen"
Damals, unmittelbar nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, hatte Ern im patriotischen Überschwang gesagt: "Ich bin erstens davon überzeugt, dass die stürmische Entfesselung des Germanentums durch Kants Denkweise vorbereitet wurde; ich bin zweitens davon überzeugt, dass die Krupp-Waffen zutiefst von Philosophie erfüllt sind; ich bin drittens davon überzeugt, dass der nach innen gerichtete germanische Geist in der Philosophie Kants sich zwangsläufig und fatal nach außen in den Krupp-Waffen Ausdruck verschafft." Unter dem "weichen Fell der deutschen Kultur" zeigten sich "plötzlich blutrünstige Raubtierklauen", so der Redner, den der Gouverneur von Kaliningrad jetzt auf groteske Weise in Erinnerung brachte.
Während Wladimir Ern seinerzeit in der Ära des Imperialismus ein großes Kapitel deutscher Geistesgeschichte aufblätterte, beließ es Anton Alichanow bei einer höchst polemischen Zusammenfassung: "Kant legte den Grundstein für die deutsche klassische Philosophie, stärkte die deutsche Willenskraft und befreite sie gleichzeitig von Gott und höheren Werten. Dementsprechend schuf die deutsche Philosophie ohne Gott und höhere Werte eine gesellschaftliche Situation, in der der nationale Wille ganz und gar den Waffen Krupps anvertraut wurde und Krupps Waffen auf Russland feuerten."
"Natürlicher Vorteil jeder Kultur"
Mit seinem bizarren und höchst umstrittenen Ausflug in die Philosophie steht der junge Gouverneur übrigens nicht allein da. Auch Alexander Dugin, ein rechtsextremer russischer Denker mit besten Verbindungen zum Kreml, hatte im Januar geschrieben: "Eine starke eigene philosophische Tradition ist ein natürlicher Vorteil jeder Kultur, die es ihr ermöglicht, bei ihren Anhängern die Fähigkeit zu stärken, die Wirklichkeit zu verstehen und auf der Grundlage dieses Verständnisses neue Folgerungen zu ziehen. Genau das erklärt die Magie der Beziehung zwischen 'Kant' und 'Krupp', der deutschen klassischen Philosophie und den deutschen Waffen."
Solche Meinungsäußerungen wirken auch deshalb aberwitzig, weil kein Geringerer als Putin persönlich noch im Juli 2005 bei einem Besuch von Kants Grab gesagt hatte: "Kant war ein kategorischer Gegner der Beilegung zwischenstaatlicher Streitigkeiten durch Krieg. Und wir versuchen, uns an diesen Teil seiner Lehre zu halten. Ich glaube, dass die Vision, die Kant dargelegt hat, von unserer Generation verwirklicht werden sollte und kann." Putin besuchte Kaliningrad seinerzeit an der Seite des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Euphorisch hatte der russische Präsident betont: "Aufgrund seines enormen Beitrags zur Weltkultur gehört Kant zu der Kategorie von Menschen, die wir zu Recht Weltmänner nennen."
"Das ist völlig unkantianisch"
Ob Putin den deutschen Philosophen wirklich richtig verstanden hat, daran hat der russische Geisteswissenschaftler und Kant-Experte Dmitri Poljanski seine Zweifel. Er verweist darauf, dass der russische Präsident jüngst aus Kants Aufforderung zum eigenständigen Denken abgeleitet habe, Russland müsse nur noch seine Interessen im Auge behalten, quasi geistig so unabhängig werden wie Nordkorea: "Aber das ist völlig unkantianisch, denn Kant ist der bedeutendste Theoretiker des Völkerrechts. Und alles, was Russland und Putin tun, was Alichanow fordert, entspricht gerade nicht dem Völkerrecht." Mutmaßlich habe der Gouverneur dem Kreml nur signalisieren wollen, wie schlecht und verräterisch der Westen sei und mit den "absurden" Bemerkungen seine - falsch verstandene - Loyalität unter Beweis stellen wollen.
Bewohner von Kaliningrad mutmaßten, dem Gouverneur und seinen Leuten sei es lediglich darum gegangen, einen medienwirksamen "Hype" zu inszenieren: "Und das ist ihnen gelungen." Die örtlichen Uni-Chefs allerdings seien "schockiert" gewesen, dies umso mehr, als Alichanow quasi "im Vorbeigehen" auch den deutschen Romantiker und gebürtigen Königsberger E.T.A. Hoffmann (1776 - 1822) als gefährlich gebrandmarkt hatte. Dessen Romanfiguren - "vereinfacht gesagt, böse Geister" - seien von Kants Denken geprägt.
"Alternativbegabter Clown"
Womöglich wurde Gouverneur Alichanow aus dem Kreml auf Putins Kant-Hymnen aufmerksam gemacht, denn er löschte zwischenzeitlich auf seinem Telegram-Kanal die umstrittenen Passagen. Da hatte die Debatte über das Thema allerdings längst Fahrt aufgenommen. Der Politiker wurde von russischen Bloggern als "alternativbegabter Clown" geschmäht. Alichanows Pressesprecher mühte sich, den Ausrutscher seines Chefs mit dem Hinweis zu korrigieren, "die westlichen Länder verschanzten sich hinter den Werken Kants und seiner Denkweise, die letztendlich zur Notwendigkeit [der Spezialoperation] geführt" habe.
"Nun, Alichanow selbst, der den Artikel feige löschte, entlarvte einmal mehr den wesentlichen geistigen Kern der Mehrheit der derzeitigen Beamten", so Blogger Viktor Koslow: "Sie haben Angst, ihre Meinung selbst zu den harmlosesten Themen zu verteidigen, beispielsweise zu den Ideen eines längst verstorbenen Philosophen. Manchmal scheint es so, als würden die Gouverneure im Fall des Falles beides unterstützen, wenn der Kreml einerseits Dekrete veröffentlicht, wonach das Tragen der Burka angeordnet wird und gleichzeitig zu Gay-Pride-Paraden aufruft."
"Spirituelle Verarmung Russlands"
Blogger Lew Schlossberg schrieb: "Die Absicht, Kant tatsächlich 'vom Schiff der russischen Moderne über Bord zu werfen', signalisiert den Wunsch, völlig mit den europäischen Wurzeln der russischen Kultur zu brechen und Russlands eigene Ursprünge und seine natürliche Lebenswelt in den Vordergrund zu rücken. Das ist ein direkter Weg in den Krieg. Diese Absicht zeugt vom politischen Kurs Richtung völlige Selbstisolation Russlands von der europäischen Welt und vom Willen, den gesamten kulturellen Reichtum zu ignorieren, den die Menschheit angesammelt hat. Das wird unweigerlich zur intellektuellen und damit auch spirituellen Verarmung Russlands führen."
Exil-Kolumnist und Politologe Alexej Markarin meinte ironisch: "Die Kommentare zu Alichanows Rede verraten viel über die Anpassungsfähigkeit russischer Beamter an die politische Mode. Denken Sie daran, dass Kant noch vor einem Jahrzehnt auf offizieller Ebene als einer der Zeugen der russisch-deutschen Freundschaft galt. Aber noch etwas anders ist von Bedeutung. Im vorrevolutionären Russland gab es nicht nur geistige Höhenflüge, sondern auch viel Rückschrittliches. Gleichzeitig war dieses Primitive oft eine intellektuelle Randerscheinung – zum Beispiel respektierten die meisten russischen Philosophen größtenteils sowohl Kant, als auch die deutsche Philosophie im Allgemeinen. Doch nun sind es genau diese Randregionen, die als geistige Grundlage für moderne Ideologen dienen."
"Putins Hauptantrieb ist Fanatismus"
In der in Amsterdam erscheinenden "Moscow Times" rechnete Viktor Postnow mit dem Kaliningrader Gouverneur ab: "Alichanow gibt sich mit dem Menschen als höchstem Wert definitiv nicht zufrieden. Tatsächlich wäre es unter dieser Voraussetzung unbequem, jeden Tag Menschen zu töten." Sarkastisch hieß es, der Politiker habe den Russen die "Augen für die Wahrheit" geöffnet. Es sei "bemerkenswert", dass der Schuldige am Ukrainekrieg außerhalb Russlands und außerhalb der Gegenwart aufgespürt worden sei: "Für Kants Metaphysik ist der Mensch an sich eine gute Sache; für Alichanow-Putins Metaphysik (der Gouverneur sei zumindest in diesem Zusammenhang an erster Stelle genannt) ist der Mensch als solcher schuldig. Und es ist kaum möglich, diese beiden Welten miteinander zu vereinbaren."
Putin deute Kants Philosophie offenkundig in höchst eigenartiger Art und Weise: "Schließlich legt er wie kein anderer das jeweils geltende Gesetz nach seinem freien Willen aus. Das einzige Problem besteht darin, dass seine Willensfreiheit durch die Bedeutungslosigkeit und Unbedarftheit seiner Person geschmälert wird, die den Hauptantrieb seines Willens ausmachen – den Fanatismus, für den alles Menschliche ausschließlich Mittel, niemals Zweck ist."
"Leck in der Zivilisations-Pipeline"
Der in London lehrende Exil-Politologe Wladimir Pastuchow vermutete, "Dummheit" sei neuerdings eine besonders hinterhältige Methode der russischen Geheimdienste: "Es stellte sich heraus, dass nicht [Ex-Politiker und Boris Jelzin-Vertrauter] Anatoli Tschubais an allem schuld ist, sondern Kant."
Offenbar gebe es diesbezüglich ein "Leck in der Zivilisations-Pipeline", spottete Pastuchow und zitierte eine Passage aus dem berühmten Roman "Meister und Margarita" von Michail Bulgakow, wo der Teufel höchstpersönlich unter den Namen "Voland" den ganzen Ärger mit Kant vorausgesehen habe und ihn in die Psychiatrie einweisen wollte: "Ich habe ihm damals beim Frühstück gesagt, ich kann mir nicht helfen, aber Sie haben sich damals was Ungereimtes ausgedacht, Herr Professor. Es mag klug sein, aber es ist schmerzlich unverständlich. Sie werden sich über Sie lustig machen." Leider weile Kant allerdings seit langem in einer Gegend, aus der man ihn unmöglich zurückholen könne, so Voland mit dem Ausdruck des tiefsten Bedauerns.
"Selbstverschuldete Unmündigkeit"
Immanuel Kant verbrachte sein gesamtes Leben in Königsberg, obwohl er gern Reiseberichte las, und gilt als Vordenker und Wegbereiter der Aufklärung in Deutschland. In seiner grundlegenden Programmschrift dazu aus dem Jahr 1784 verurteilte er jedweden Aberglauben und forderte die konsequente Orientierung an der Vernunft: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen."
Zu Kants bekanntesten Handlungsprinzipien gehört der "kategorische Imperativ", der im Volksmund unter dem Sprichwort bekannt ist: "Was Du nicht willst, was man Dir tu, das füg auch keinem andren zu." Bei Kant heißt es dazu in seiner "Metaphysik der Sitten": "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde."
Alichanows Pressesprecher stellte übrigens in Aussicht, dass die Feierlichkeiten zum 300. Geburtstag von Kant in Kaliningrad "in keiner Weise" durch den Streit um den Philosophen beeinträchtigt sein würden.
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