Die beiden Gesprächspartner auf weiß lackierten Stilmöbel-Sesseln im Kreml
Bildrechte: Gavriil Grigorov/Picture Alliance
Audiobeitrag

Tucker Carlson (links) und Putin beim Gespräch

Audiobeitrag
> Kultur >

"Es ist ganz einfach": Putin über Gewissensbisse und Dostojewski

"Es ist ganz einfach": Putin über Gewissensbisse und Dostojewski

In einem aufsehenerregenden, aber inhaltsleeren Interview mit dem umstrittenen US-Journalisten Tucker Carlson wiederholt der russische Präsident seine bekannten Propagandafloskeln - und behauptet, "tief im Herzen" christlich zu handeln.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Es sei womöglich nicht sein "bestes Interview", hatte der amerikanische Journalist, bekennende Trump-Fan und Putin-Bewunderer Tucker Carlson vor der Veröffentlichung seines Gesprächs mit dem russischen Präsident scheinbar bescheiden geäußert. Wie sich herausstellte, war es überhaupt kein im engeren Sinne journalistisches Format, worauf Putin bei der gut zweistündigen Begegnung ausdrücklich hinwies. Der russische Präsident eröffnete den Dialog nämlich mit einem fast halbstündigen Vortrag über die Geschichte Russlands seit der Landnahme durch den mutmaßlichen Wikinger-Herrscher Rurik um 870.

Als Tucker Carlson darauf verwies, dass dieser historische Abriss zum Auftakt sehr lang ausgefallen sei, fragte Putin zurück, ob das Ganze ein übliches "Interview", oder nicht doch ein "ernsthaftes Gespräch" sein solle. Offenbar wollte der Präsident weniger Fragen beantworten, sondern mehr sein Weltbild unter die Leute bringen. In russischen Blogs hatte es denn auch schon im Vorfeld geheißen, die Russen würden wohl kaum Neues erfahren, die Botschaft richte sich an westliche Kreml-Fans. Ob die allerdings konzentrierter zuhören als Tucker Carlson? Der warf zwischendurch ein: "Ich bin mir nicht sicher, ob ich verstehe, von welchem ​​Jahrhundert wir jetzt gerade sprechen." Das sei ja alles "sehr detailliert", so der offenbar etwas gelangweilte Journalist.

"Unsere Kultur ist so menschlich eingestellt"

Und so wiederholte Putin zu jedem Thema seine propagandistischen Floskeln, wonach es in der Ukraine einen "Putsch" gegeben habe und dort "Neonazis" an der Macht seien. Er vergaß auch nicht darauf hinzuweisen, dass seiner Meinung nach Länder wie Polen und Ungarn Gebietsansprüche an die Ukraine hätten. Der "patriotische Überschwang" sei in Russland besonders ausgeprägt, der Wille zu einer Verhandlungslösung ebenfalls. Kiew müsse diesbezüglich seine Irrtümer "korrigieren".

Wirklich Überraschendes erfuhr das Publikum nicht. Als Putin gefragt wurde, wie er als Christ mit seinem Glauben vereinbaren könne, einen Krieg zu führen, antwortete er: "Es ist alles ganz einfach. Es geht darum, sich selbst und seine Familie zu verteidigen, unser Heimatland. Wir haben niemanden angegriffen. Wir verteidigen unser Volk, unsere Heimat."

Was Religion im Allgemeinen angehe, komme es nicht auf Äußerlichkeiten an, meinte Putin, etwa wöchentliche Gottesdienstbesuche oder besonders eifriges Beten, bei dem die Leute die Köpfe zum Boden senkten: "Das steckt tief im Herzen. Unsere Kultur ist so menschlich eingestellt. Dostojewski, der im Westen bekannt ist, dieses Genie der russischen Kultur und Literatur, hat viel über die russische Seele gesprochen. Die westlichen Gesellschaften denken eher pragmatisch, wir Russen orientieren uns mehr an der Ewigkeit, an moralischen Werten." Die westliche Haltung sei an sich gar nicht schlecht, so Putin, denn dadurch habe der Westen einen Vorsprung, was die Wirtschaft und technische Fortschritte betreffe.

"So war es immer in der Geschichte der Menschheit"

Direkt gefragt, ob er glaube, dass Gott seine Hände im Spiel habe in der internationalen Politik, schien Putin zunächst verblüfft, um dann zu sagen: "Ehrlich gesagt, nein. Die Entwicklung der Weltgemeinschaft folgt damit verbundenen Gesetzen. Die sind nun mal, wie sie sind. So war es immer in der Geschichte der Menschheit, einige Länder und Völker steigen auf, werden stärker und größer, und dann verlassen sie die internationale Bühne, weil sie die Bedeutung verlieren, an die sie gewöhnt waren. Sie werden von mir keine Beispiele erwarten, aber wir könnten mit der Goldenen Horde beginnen oder auch mit dem Römischen Reich." Der Unterschied zu früher sei lediglich, dass alles "viel schneller" ablaufe.

Eine Prognose, wann die Computer mit ihrer Künstlichen Intelligenz die Welt übernehmen, wollte ein lachender Putin nicht machen, verwies aber darauf, dass eine Firma des US-Milliardärs Elon Musk kürzlich bekannt gegeben habe, einem Menschen einen Chip ins Gehirn gepflanzt zu haben: "Nichts kann Elon Musk stoppen, er macht, was er für richtig hält. Man muss mit ihm eine gemeinsame Gesprächsgrundlage finden. Ich glaube wirklich, er ist ein kluger Kopf. Man muss mit ihm eine Verständigung suchen, denn dieser Prozess sollte formalisiert werden und muss sich an gewisse Regeln halten."

"Zeichen guten Willens sind mir ausgegangen"

Auf den in Russland wegen angeblicher "Spionage" seit März 2023 inhaftierten US-Journalisten Evan Gershkovich angesprochen, der aus Moskau für das Wall Street Journal berichtete, seufzte Putin, von dem Tucker Carlson ein "Zeichen des guten Willens" erwartete. Anscheinend war der Präsident von der Frage leicht genervt und erwiderte dann: "Wir haben aus Anstand so viele Zeichen guten Willens bewiesen, dass sie mir ausgegangen sind. Nein, wir haben niemals gesehen, dass uns das jemand in ähnlicher Weise vergolten hat. Nun, rein theoretisch können wir nicht ausschließen, dass wir das machen, wenn unsere Partner ähnliche Schritte mitgehen." Damit meine er in erster Linie die beteiligten Geheimdienste.

"Sie können sich Ihre Nachbarn nicht aussuchen"

Es gebe keine "Tabus" bei der Lösung des "Problems": "Ich glaube, wir könnten eine Einigung erreichen." Für Putin ist bewiesen, dass Gershkovich ein "Spion" sei, weil er geheime Unterlagen an sich genommen habe, möglicherweise aus "Unachtsamkeit". Für welche ausländischen Auftraggeber Gershkovich gearbeitet habe, wollte Putin nicht beantworten: "Ich weiß es nicht. Für Monaco wird er nicht tätig gewesen sein."

Sorgen, dass Russland künftig politisch und wirtschaftlich von China dominiert wird, hat Putin nach eigener Aussage nicht: "Wir haben diese Gespenstergeschichten schon oft gehört, das ist auch so eine. Sie können sich Ihre Nachbarn ebensowenig aussuchen wie Ihre Verwandten. Wir teilen mit ihnen eine tausend Kilometer lange Grenze, erstens. Zweitens haben wir Jahrhunderte alte Erfahrungen in friedlichem Zusammenleben. Drittens ist Chinas außenpolitische Philosophie alles andere als aggressiv, sondern stets auf Kompromisse ausgerichtet. Das sehen wir auch."

"In gewisser Weise ein Bürgerkrieg"

Die Anekdote "aus dem wirklichen Leben", mit der Putin das Gespräch beendete, mutet ausgesprochen grotesk an. Er wollte damit nach eigener Aussage deutlich machen, dass ukrainische und russische Soldaten ein und demselben Volk angehörten und sich die Menschen irgendwann über die Feindseligkeiten hinweg wieder annähern würden: "Russische Soldaten umzingelten ukrainische Truppen und forderten sie zur Kapitulation auf. 'Russen ergeben sich niemals', sagten die Ukrainer und alle kamen ums Leben. Sie verstanden sich also in gewisser Weise selbst als Russen. Was passiert, ist eine Art Bürgerkrieg. Im Westen denken Sie, die Russen seien immer gespalten gewesen, nein, sie werden wieder zueinander finden. Niemand wird unsere Seelen spalten. Sollen wir hier aufhören, oder gibt´s noch was?"

Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!